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Pöschl, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 3. Abhandlung): Der Begriff der Würde im antiken Rom und später: vorgetragen am 10. Mai 1969 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48158#0045
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Der Begriff der Würde im antiken Rom

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ser von der antiken Philosophie und Dichtung verkündeten Gotteben-
bildlichkeit des Menschen ist die christliche verschmolzen, auf der die
Menschenwürde, wie gesagt, beruht.
Auch die vorchristliche „Sohnesverwandtschaft“ des Menschen mit
Gott kehrt wieder in der christlichen Gotteskindschaft. Die von Gott
verliehene dignitas hominis steht so bei den Christen in bewußt scharfem
Gegensatz zu der miseria hominis, die ebenfalls zur Natur des Menschen
gehört.93 Die Erfüllung der Menschenwürde wurde so wie zu allen Zei-
ten als ein Sieg über menschliche Niedrigkeit, menschliche Schwäche,
menschliches Versagen empfunden. Nur von der sich stets wiederholen-
den Erfahrung ihrer Verletzung erhält sie überhaupt erst ihren Sinn.
Von den Christen wurde die miseria hominis übrigens geradezu als
Argument für die Güte Gottes verwendet: Trotz seiner Niedrigkeit hat
Gott dem Menschen die Würde seiner Kindschaft verliehen, ein fast
unvorstellbarer Beweis göttlicher Gnade. In der 7. Rede von den Selig-
preisungen des Gregor von Nyssa94 („Selig sind die Friedfertigen, denn
sie werden Kinder Gottes genannt werden“) lesen wir: „Welche Worte
können ersonnen, welche Namen erdacht werden, um das Gnadenge-
schenk einer solch erhabenen Verheißung würdig darzustellen? . ..
Denn was ist der Mensch im Vergleich zum göttlichen Wesen? Von wel-
chem der Heiligen soll ich Aussprüche anführen, um die Niedrigkeit des
Menschen zu beleuchten? Nach Abraham ist er Staub und Asche (Gen.
18,27), nach Isaias Heu (Is. 40,6), nach David nicht einmal Gras, son-
dern nur etwas dem Gras Ähnliches (Ps. 36,2) - denn ersterer sagt
wenigstens: ,Alles Fleisch ist Heu4, letzterer aber: ,Der Mensch ist wie
Gras‘ - nach dem Ekklesiastes ,Eitelkeit4 (1,2), nach Paulus ,Elend4
(IKor. 15,19).“
Durch die Gottesebenbildlichkeit wird jedem einzelnen Menschen
nun eine eigene Würde zugesprochen, die definiert wird durch den
direkten Bezug des Menschen zu Gott ohne Rücksicht auf die politische
93 Auch dies knüpft an die Antike an. Der Thesaurus Linguae Latinae unterscheidet unter
dem Stichwort homo den allgemeinen Gebrauch von einer Verwendung cum emphasi,
wobei entweder die dignitas oder die infirmitas des Menschen hervorgehoben wird. Vgl.
A. Buck (1969).
Die im Begriff der Menschenwürde enthaltene Erhöhung des Menschen wurde
immer wieder kritisiert, am konsequentesten zuerst bei Montaigne. „Das Herabrufen
des Menschen von jeglichem Kothurn bleibt der große Leitton der Essays“, schreibt H.
Friedrich (Montaigne, Bern 1949, 120), und: „Die Hinweise auf Elend, Schwäche,
Unwürde des Menschen sind zahllos in den Essays“ (ebd. 121).
94 De beatitudinibus 7, in: Migne, Patrologia Graeca 44, col. 1277f.; dt. Übers.: Biblio-
thek der Kirchenväter, Gregor von Nyssa, München 1927, 220ff.
 
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