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Hermann Berger
Humboldt, dessen Name eingangs bereits genannt wurde, nichts an ih-
rer Aktualität verloren, und sie ist bis heute eigentlich unbeantwortet
geblieben. Wilhelm v. Humboldt hat in seinem genialen Werk „Über die
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die
geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1836) mit seiner Auf-
fassung daß „die Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung ei-
nes Volkes ... in solcher Innigkeit der Verschmelzung miteinander ste-
hen, daß, wenn die eine gegeben wäre, die andere müßte vollständig aus
ihr abgeleitet werden“17 diese Grundfrage eher gestellt als beantwortet.
Auch wer seine wertende Unterscheidung in vollkommene und weniger
vollkommene Sprachen im ganzen nicht übernimmt, wird viel erfahren
können darüber, woran man eine weniger vollkommene Sprache er-
kennt, aber kaum eine Antwort auf die Frage, warum jede dieser Spra-
chen auf ihre eigene, das ganze System durchziehende Weise weniger
vollkommen ist, und dasselbe gilt mutatis mutandis auch für moderne
Auffassungen, die alle Sprachsysteme für gleich, aber auf verschiedene
Weise unvollständig halten, oder ihre verschiedenen Oberflächenaus-
prägungen ein und derselben Tiefenstruktur zuschreiben. Aber im Bu-
rushaski liegt ein Sonderfall vor, und das Problem der Deutung redu-
ziert sich hier zunächst auf die Frage, ob man in dem Nebeneinander und
Ineinander grammatischer Auffassungen ein Abbild außersprachlicher
Tatsachen erkennen kann. Wenn hinter der komplexen Struktur dieser
Sprache, wie ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, mehr zu suchen ist
als eine bloße Anhäufung von Lehnkonstruktionen, wie sie fast in jedem
Sprachbereich vorkommen, so kann die Sprache von Hunza und Nager
auch nicht nur ethnische Kontakte früherer Zeiten abbilden, über die
wir ohnehin erst seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas wissen.
Was uns aber unmittelbar zur Verfügung steht, ist die seit ihrer Entdek-
kung immer wieder als außergewöhnlich empfundene Spannweite des
Stammescharakters der Burusho. Ihre ganz und gar modern anmutende
wirtschaftliche und politische Tüchtigkeit, ihre Innovationsfreudigkeit,
die ihnen in ihrer Umgebung den - nicht unbedingt schmeichelhaften -
Vergleich mit den Europäern eingebracht haben, ist lange bekannt; aber
erst die eingehende ethnologische Forschung der letzten Jahre, nament-
lich durch Frau Stellrecht18, hat das Ausmaß bloßgelegt, in dem die Bu-
rusho bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein einem archaischen
17 a.a.O. (A 1), p.414.
18 Die in ihrer Habilitationsschrift niedergelegten Ergebnisse sind noch nicht veröffent-
licht.
Hermann Berger
Humboldt, dessen Name eingangs bereits genannt wurde, nichts an ih-
rer Aktualität verloren, und sie ist bis heute eigentlich unbeantwortet
geblieben. Wilhelm v. Humboldt hat in seinem genialen Werk „Über die
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die
geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1836) mit seiner Auf-
fassung daß „die Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung ei-
nes Volkes ... in solcher Innigkeit der Verschmelzung miteinander ste-
hen, daß, wenn die eine gegeben wäre, die andere müßte vollständig aus
ihr abgeleitet werden“17 diese Grundfrage eher gestellt als beantwortet.
Auch wer seine wertende Unterscheidung in vollkommene und weniger
vollkommene Sprachen im ganzen nicht übernimmt, wird viel erfahren
können darüber, woran man eine weniger vollkommene Sprache er-
kennt, aber kaum eine Antwort auf die Frage, warum jede dieser Spra-
chen auf ihre eigene, das ganze System durchziehende Weise weniger
vollkommen ist, und dasselbe gilt mutatis mutandis auch für moderne
Auffassungen, die alle Sprachsysteme für gleich, aber auf verschiedene
Weise unvollständig halten, oder ihre verschiedenen Oberflächenaus-
prägungen ein und derselben Tiefenstruktur zuschreiben. Aber im Bu-
rushaski liegt ein Sonderfall vor, und das Problem der Deutung redu-
ziert sich hier zunächst auf die Frage, ob man in dem Nebeneinander und
Ineinander grammatischer Auffassungen ein Abbild außersprachlicher
Tatsachen erkennen kann. Wenn hinter der komplexen Struktur dieser
Sprache, wie ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, mehr zu suchen ist
als eine bloße Anhäufung von Lehnkonstruktionen, wie sie fast in jedem
Sprachbereich vorkommen, so kann die Sprache von Hunza und Nager
auch nicht nur ethnische Kontakte früherer Zeiten abbilden, über die
wir ohnehin erst seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas wissen.
Was uns aber unmittelbar zur Verfügung steht, ist die seit ihrer Entdek-
kung immer wieder als außergewöhnlich empfundene Spannweite des
Stammescharakters der Burusho. Ihre ganz und gar modern anmutende
wirtschaftliche und politische Tüchtigkeit, ihre Innovationsfreudigkeit,
die ihnen in ihrer Umgebung den - nicht unbedingt schmeichelhaften -
Vergleich mit den Europäern eingebracht haben, ist lange bekannt; aber
erst die eingehende ethnologische Forschung der letzten Jahre, nament-
lich durch Frau Stellrecht18, hat das Ausmaß bloßgelegt, in dem die Bu-
rusho bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein einem archaischen
17 a.a.O. (A 1), p.414.
18 Die in ihrer Habilitationsschrift niedergelegten Ergebnisse sind noch nicht veröffent-
licht.