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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0011
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Gestatten Sie mir, bitte, mit einer persönlichen Reminiszenz zu
beginnen. Vor 30 Jahren veröffentlichte ich ein kleines Buch, in
dem es u.a. um die erste christliche Mission im Axumitenland, im
heutigen Äthiopien, geht1. Ein erhaltenes Schreiben des römi-
schen Kaisers Constantius II. bietet dafür einen chronologischen
Anhaltspunkt. Es ist an zwei offenbar gemeinsam in Axum regie-
rende Häuptlinge, tyrannoi, gerichtet und betrifft den in ihrem
Land amtierenden Bischof. Ein Brüderpaar mit genau denselben
Namen erscheint als Herrscher auch auf einer schwer datierbaren
äthiopischen Inschrift. Einer der beiden ist der große Ezana, der
später als Alleinherrscher sein Reich bis an den Nil ausdehnte und
auf einer offenbar späteren Inschrift sich als Christ zu erkennen
gibt. Ich betonte den Zeugniswert dieser doppelten Namensgleich-
heit, und zwar in der Auseinandersetzung mit einem Gelehrten,
der die Anfänge des äthiopischen Christentums mit m. E. schwa-
chen Gründen ins 5. statt ins 4. Jh. setzen wollte und darum jenes
einzige chronologische Zeugnis zu entwerten suchte. In diesem
Zusammenhang habe ich geschrieben, daß man ein solches Zeug-
nis in seinem Wahrscheinlichkeitswert ernst nehmen müsse,
solange der gesunde Menschenverstand auch in der Wissenschaft
gebraucht werde - eine Formulierung, die mir mein Opponent
recht übel nahm. Angedeutet ist damit folgendes.
Die Beschäftigung mit Zeugnissen für das, was Menschen einst
getan und bewirkt haben, führt nur selten zu Einsichten, die so
zwingend sind wie mathematisch formulierte Resultate der Natur-
wissenschaft. Weder in der Vor- noch in der Rückschau ist immer
mit Sicherheit zu sagen, wie und mit welchen Motiven sich Men-
schen entscheiden. So bleibt man angesichts meist lückenhafter
Dokumentation, die der Sinngebung durch den Forscher bedarf,
auf den sog. „gewöhnlichen“ Verstand angewiesen. Seine Opera-
tionen führen, wenn es gut geht, zu Resultaten von einiger Wahr-
scheinlichkeit, deren Grad sich nur aus der Erfahrung abschätzen
läßt. Es ist derselbe Verstand, den der Forscher auch im eigenen
Lebensvollzug gebraucht - oder doch gebrauchen sollte. Mit seiner
Hilfe orientieren wir uns in der Welt, die sich unserer begrenzten
Sinneswahrnehmung darbietet und uns durchweg mit komplexen

1 Umstrittene Daten, Köln und Opladen 1964.
 
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