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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0017
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Vom gesunden Menschenverstand

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ein gutes Jahrhundert beschäftigte und das durch die Wörter Phy-
sis und Nomos bezeichnet ist. Wir verbinden mit diesem Thema
vor allem die Lehren der sog. Sophisten des späten 5. und 4. Jh.
v.C., doch reicht seine Bedeutung weit über diesen Kreis hinaus23.
Die Kernfrage in diesen Diskussionen war moralischer Art und
lautete: Wie soll sich der Mensch verhalten, wenn seine Natur ihm
Impulse zu einem Handeln gibt, das gegen die Normen verstößt,
nach denen seine Mitmenschen gerecht und ungerecht unterschei-
den? Aus dem neuen Naturbegriff ergab sich nämlich, daß der
Mensch in zwei Ordnungen lebe, die man bis dahin als Einheit
betrachtet hatte: Eine natürliche, unverfügbare, unveränderliche
und eine soziale, von Menschen hergestellte, der Veränderung
unterworfene. Am Primat der natürlich-göttlichen Ordnung und
ihrer ungleich stärkeren Motivationskraft konnte kein Zweifel
bestehen. So wies der Sophist Antiphon daraufhin, daß die Men-
schen unbeobachtet den Antrieben ihrer Natur folgen und nur
unter den Augen ihrer Mitmenschen den Regeln der Gesellschaft
gehorchen und damit gerecht handeln24. Doch ergab schon kurzes
Nachdenken die Gewißheit, daß der Mensch auf eine soziale, also
nicht naturgegebene, Ordnung angewiesen ist, da überhaupt nur
diese ein Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und erst gemein-
schaftliches Handeln die natürlichen Möglichkeiten des Menschen
erweitert25. Das haben gerade die Sophisten betont. Keiner der
Sophisten vertrat die Lehre, der Mensch solle sich ohne Rücksicht
auf andere nach den Forderungen seiner Natur richten - sich selbst
verwirklichen, würde man heute sagen - und dabei, wo immer
möglich, die Regeln seiner Gesellschaft ignorieren. Der Kallikles
des platonischen Dialoges „Gorgias“ mit seiner Lehre vom natür-
lichen Recht des Stärkeren ist ebenso eine Fiktion wie der Pheidip-

23 Grundlegend F. Heinimann, Physis und Nomos, Basel 1945; ferner J. de
Romilly, La loi dans la pensee grecque des origines ä Aristote, Paris 1971.
24 Antiph. B 44a I col. II D. K.; vgl. Euripides TGF (2. Aufl.) fr. 920 und das Sisy-
phos-Fragment TrGF 43 F 19. Über die Unwiderstehlichkeit des natürlichen
Macht- oder Geschlechtstriebes verbreiten sich auch Personen des euripidei-
schen Dramas (Phoen. 499ff. bzw. Hippol. 433ff.).
25 Besonders deutlich in dem von Herodot (7,101 ff.) berichteten Dialog zwischen
dem Perserkönig Xerxes und dem exilierten Spartaner Demaratos, in dem die-
ser erläutert, wie in der durch den Nomos hergestellte Gemeinschaft mensch-
liche Tüchtigkeit über das von der Natur gesetzte Maß hinaus gesteigert wird.
Vergleichbar ist das Fragment aus einem sophistischen Traktat bei Ps. Demo-
sthenes 25,15ff. Das Thema wird auch in der späteren Philosophie wiederholt
behandelt, z. B. Ps. Plato, Minos 319 Bff.
 
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