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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0018
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Albrecht Dihle

pides der „Wolken“, einer Komödie des Aristophanes26. Dort hat
ein Schüler des als Sophisten porträtierten Sokrates gelernt, seinen
Vater zu verprügeln, weil das der von der Natur gebotene Aus-
gleich früher empfangener Züchtigungen sei. Philosophen und
Satiriker setzen sich eben weniger mit den Meinungen oder Lehren
Anderer auseinander als vielmehr mit den Folgerungen, die man
daraus auch gegen die Intention ihrer Vertreter ziehen kann.
Indessen zeigten sich gerade nachdenkliche Athener Zeitgenossen
von der Einsicht beunruhigt, daß natürliche und soziale Ordnung
nicht leicht auf einen Nenner zu bringen seien. Auf welche der
Ordnungen verwies denn nun der normale, spontan reagierende
Verstand? Mit der nunmehr möglich gewordenen Relativierung
konventioneller Normen, die sich nicht auf die Natur zurückführen
ließen, sah man die moralische Orientierung schlechthin gefähr-
det. Dieses Gefühl der Unsicherheit läßt sich deutlich an Dramen
ablesen, die im späten 5. Jh. aufgeführt wurden27.
Gerade die Sophisten gaben sich jedoch Mühe, die unerläß-
lichen Regeln sozialer Ordnung mit einer neuen, sie vor aller Belie-
bigkeit schützenden Begründung zu versehen. Denn daß man in
dieser Frage nicht wieder auf die Götter zurückgreifen könne,
machte der Sophist Thrasymachos deutlich. Er bezweifelte ihre
Existenz mit dem Argument, daß sie nicht eingreifen, wenn die
Menschen ihr höchstes Gut, die Gerechtigkeit, verletzen. Gerech-
tigkeit aber ist, nach seiner und anderer Sophisten Lehre, als Ein-
haltung der Nomoi, der Gesetze und Konventionen, zu definie-
ren28.
Wir kennen mehrere Versuche, soziale Regeln neu zu begrün-
den und dabei sowohl ihre Verbindlichkeit als auch ihre Verschie-
denheit und Veränderlichkeit zu berücksichtigen. So entwickelten
die Sophisten Antiphon und Lykophron eine Theorie, nach der die
Nomoi Inhalt eines bindenden Vertrages sind, den die Glieder

26 Plat. Gorg. 482 Cff. mit dem Kommentar von E. R. Dodds, Oxford 1959, 263 ff.;
Aristoph. Nub. 132Iff. Im „Kyklops“, einem Satyrspiel des Euripides, begrün-
det der Riese den Entschluß, seinen Gast Odysseus aufzufressen damit, daß er
lediglich der Natur folge und das Gastrecht zu den Konventionen gehöre, mit
denen man das Leben kompliziert gemacht habe (314ff.).
27 Z. B. Soph. Oed. R. 863ff.; Eur. Hec. 799ff.; Aristoph. fr. 490 K. A. Die Dissoi
Logoi, ein Buch zur Einübung in die Kunst der Debatte, illustrieren die Rela-
tivität von Werturteilen in der Tat am Beispiel der Unterschiede zwischen den
Sitten der Völker (l,175ff).
28 Thrasym. B 8 D. K.; Antiph. B 44a I col. I; vgl. Thuc. 7,77; Lys. 25,28 u.v.a.
 
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