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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0019
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Vom gesunden Menschenverstand

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jedes Gemeinwesens miteinander geschlossen haben29. Protagoras
führte zwar nicht die Regeln einer bestimmten Ordnung, wohl aber
Bedürfnis und Fähigkeit, solche Regeln zu finden und nach ihnen
zu leben, auf die natürliche Ausstattung des Menschen zurück,
postulierte also eine neue Verbindung zwischen Gesellschaft und
Natur. Das ist die Quintessenz seines von Platon im gleichnamigen
Dialog referierten Mythos, der die Entstehung menschlicher Kul-
tur beschreibt30. Ein anderer Sophist, dessen Namen wir nicht ken-
nen, und auch der Dichter Euripides, der sich eingehend mit sophi-
stischen Theorien auseinandersetzte, gaben den Regeln, die sich in
langer Tradition bewährt haben, dieselbe Würde wie der Ordnung
der Natur31. Gerade Normen des Verhaltens, denen jeder spontan
und aus Gewohnheit zustimmt, mit denen also der gesunde Men-
schenverstand operiert, fanden damit ihre Bestätigung.
Der letztgenannte Ansatz zeigt deutlich, daß Platon recht hatte,
wenn er sophistische Gesprächspartner seines Meisters gern der
Übereinstimmung mit den Meinungen der Masse, der polloi, über-
führte. Wohl alle Sophisten wollten einen zu bürgerlicher Tüchtig-
keit und allgemeinem Lebenserfolg leitenden Unterricht geben.
Darin spielte die sprachlich-formale Komponente eine sehr neue
Rolle. Aber sein moralischer Inhalt, den man aus den Resten sophi-
stischer Paränese erschließen kann, hatte ganz konventionellen
Charakter. Das gilt beispielsweise für Gorgias, den eine zeitgenös-
sische Ehreninschrift als „Erfinder einer Technik für die Wett-
kämpfe der Tüchtigkeit“ rühmt, aber auch für Kritias, den Onkel
Platons32, einen der berüchtigten Dreissig Tyrannen. Es sind alte
und allgemein anerkannte Verhaltensregeln, die hier vermittelt
wurden. Man rekurrierte also auf den gesunden, längst bewährten
Menschenverstand.
Vor diesem Hintergrund sind Platons Attacken auf die doxa tön
pollön, auf die Meinungen der Menge, zu verstehen. Diese waren
eben nicht nur in altväterischen Sprichwörtern oder unbefragten
Vorstellungen präsent, sondern gerade auch in den anspruchsvol-
29 Lycophr. B 3 D. K.; dazu C. H. Kahn, Hermes Einzelschr. 44, 1981, 92ff. und J.
Sprute, Nachr. Akad. Göttingen 1989 Nr. 2.
30 Plat. Prot. 324 E; vorgebildet bei Hesiod. Theog. 902; Opp. 256.
31 Eur. Bacch. 890ff.; Anon. ap. lambl. protr. p. lOOf. Pistelli; auf die Bedeutung
der Tradition und ihrer Träger für das Zusammenleben der Menschen verweist
auch der Sophist Thrasymachos B 1 D. K. Zur Geltung des „Altersprinzip“ vgl.
P. Pilhofer, Palaioteron beltion, Tübingen 1991.
32 Gorg. A 8 D. K.; Crit. A 1; B 6 D. K.
 
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