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Albrecht Dihle
len, pädagogisch-psychagogisch durchdachten Sentenzen des sophi-
stischen Unterrichtes33. Die dabei vorausgesetzte Begründung
moralischer Regeln aus der Tradition konnte Platon mit Sicherheit
nicht übernehmen, ging es ihm doch um ein tragfähigeres Funda-
ment, das er aus einer neuen Ontologie zu gewinnen suchte.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Platons wiederholte Bestreitung
des Grundsatzes, daß der rechte Mann seinen Freunden nützt und
seinen Feinden schadet. Man findet diese Maxime, welcher der
Alltagsverstand wohl zu allen Zeiten spontan zugestimmt hat,
mehrfach in älteren griechischen Texten, aber auch in einer kunst-
vollen Lobrede, die der schon genannte Gorgias verfaßte34. Platons
verschiedentlich modifizierte Argumentation gegen diesen Grund-
satz läuft darauf hinaus, daß die Verursachung von Schaden stets
die Seele des Schädigers, den wertvollsten Teil seines Wesens,
beeinträchtige. Die erlittene Schädigung an Leib und Leben, Besitz
oder Reputation aber bringe in Wahrheit keinen Schaden, weil sie
ebenjenen Wesenskern des Menschen, seine Seele, nicht treffen
könne. Eben deshalb sei Unrecht leiden besser als Unrecht tun,
unabhängig von allem Freund/Feind-Denken35.
Daß die immaterielle Seele des Menschen, vor allem ihr ver-
nünftiger Bestandteil, diesen überragenden Wert besitzt, liegt in
Platons Augen daran, daß sie vor ihrer Einkörperung dem wahren,
intelligiblen Sein, der Welt der Formen, zugehört hat. Die Welt der
Materie und der Sinneserfahrung trägt nur abbildhaften Charakter.
Darum vermag sich der Mensch allein durch sein Denken, durch
eine von der Sinneserfahrung unabhängige Vernunfttätigkeit, der
Wirklichkeit zu nähern, weil sich dabei die Seele an ihren Ursprung
erinnert. Nichts aber erschwert das Denken so sehr wie die Bin-
dung der Seele an einen Körper mit seiner Fixierung auf die Sin-
neserfahrung. So kommt es, daß der Mensch im diesseitigen Leben
zur unmittelbaren Anschauung der Wahrheit unfähig bleibt. Er
vermag sich ihr, solange er an einen Körper gebunden ist, nur in
unendlichem Progreß unter großer intellektueller Anstrengung
Schritt um Schritt methodisch zu nähern. Eben dieses ist Sinn und
33 Z. B. Gorg. B 8 D. K.; Polos fr. 10 (L. Radermacher, Artium scriptores p. 114).
34 Gorg. B 6 D. K.; vgl. etwa Archilochos fr. 23 West; Alkaios fr. 341 Lobel/Page;
Theogn. 59f. Dazu M. W. Blundell, Helping Friends and Harming Enemies,
Oxford 1989.
35 Crito 49 Aff; Resp. 332 Eff; Gorg. 474 Bff; 507 B; Men. 71 F. Daß Wohltun und
Wohlbefinden zusammenfallen, illustriert Platon an dem griechischen Aus-
druck eu prattein (Charm. 173 D; Euthyd. 280 Cff).
Albrecht Dihle
len, pädagogisch-psychagogisch durchdachten Sentenzen des sophi-
stischen Unterrichtes33. Die dabei vorausgesetzte Begründung
moralischer Regeln aus der Tradition konnte Platon mit Sicherheit
nicht übernehmen, ging es ihm doch um ein tragfähigeres Funda-
ment, das er aus einer neuen Ontologie zu gewinnen suchte.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Platons wiederholte Bestreitung
des Grundsatzes, daß der rechte Mann seinen Freunden nützt und
seinen Feinden schadet. Man findet diese Maxime, welcher der
Alltagsverstand wohl zu allen Zeiten spontan zugestimmt hat,
mehrfach in älteren griechischen Texten, aber auch in einer kunst-
vollen Lobrede, die der schon genannte Gorgias verfaßte34. Platons
verschiedentlich modifizierte Argumentation gegen diesen Grund-
satz läuft darauf hinaus, daß die Verursachung von Schaden stets
die Seele des Schädigers, den wertvollsten Teil seines Wesens,
beeinträchtige. Die erlittene Schädigung an Leib und Leben, Besitz
oder Reputation aber bringe in Wahrheit keinen Schaden, weil sie
ebenjenen Wesenskern des Menschen, seine Seele, nicht treffen
könne. Eben deshalb sei Unrecht leiden besser als Unrecht tun,
unabhängig von allem Freund/Feind-Denken35.
Daß die immaterielle Seele des Menschen, vor allem ihr ver-
nünftiger Bestandteil, diesen überragenden Wert besitzt, liegt in
Platons Augen daran, daß sie vor ihrer Einkörperung dem wahren,
intelligiblen Sein, der Welt der Formen, zugehört hat. Die Welt der
Materie und der Sinneserfahrung trägt nur abbildhaften Charakter.
Darum vermag sich der Mensch allein durch sein Denken, durch
eine von der Sinneserfahrung unabhängige Vernunfttätigkeit, der
Wirklichkeit zu nähern, weil sich dabei die Seele an ihren Ursprung
erinnert. Nichts aber erschwert das Denken so sehr wie die Bin-
dung der Seele an einen Körper mit seiner Fixierung auf die Sin-
neserfahrung. So kommt es, daß der Mensch im diesseitigen Leben
zur unmittelbaren Anschauung der Wahrheit unfähig bleibt. Er
vermag sich ihr, solange er an einen Körper gebunden ist, nur in
unendlichem Progreß unter großer intellektueller Anstrengung
Schritt um Schritt methodisch zu nähern. Eben dieses ist Sinn und
33 Z. B. Gorg. B 8 D. K.; Polos fr. 10 (L. Radermacher, Artium scriptores p. 114).
34 Gorg. B 6 D. K.; vgl. etwa Archilochos fr. 23 West; Alkaios fr. 341 Lobel/Page;
Theogn. 59f. Dazu M. W. Blundell, Helping Friends and Harming Enemies,
Oxford 1989.
35 Crito 49 Aff; Resp. 332 Eff; Gorg. 474 Bff; 507 B; Men. 71 F. Daß Wohltun und
Wohlbefinden zusammenfallen, illustriert Platon an dem griechischen Aus-
druck eu prattein (Charm. 173 D; Euthyd. 280 Cff).