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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0022
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Albrecht Dihle

Kontext platonischer Philosophie der Stufe auf dem Erkenntnis-
weg entsprechen, auf der sich die jeweils Angeredeten befinden.
Werturteile gelten gerade nicht deshalb, weil Jedermann ihnen
zustimmt. Nur in einem streng hierarchisch gegliederten Gemein-
wesen läßt sich, wie Platon im „Staat“ zu zeigen versuchte, ein
Modell verwirklichen, das diese Verschiedenheit unter den Men-
schen berücksichtigt. Ein politischer Führungsanspruch kommt
nach Platons Meinung darin nur demjenigen zu, der sich um das
eigentliche, den Meinungen des common sense zumeist wider-
streitende Wissen bemüht, eben dem Philosophen. Dem Gesetz-
geber, der aus griechischer Sicht als moralischer Erzieher des gan-
zen Gemeinwesens zu gelten hatte, machte dieser Ansatz sein
Geschäft schwer, nicht nur in einer demokratisch verfaßten Gesell-
schaft. Platon hat denn auch in seinem letzten großen Werk, den
„Gesetzen“, das auf weite Strecken durchaus der politischen Praxis
auf Kosten der philosophischen Stringenz Rechnung trägt, auch
auf allgemein gebilligte Anschauungen und Erwägungen zurück-
gegriffen, ohne freilich seine Abneigung gegenüber der Demokra-
tie, zu deren Voraussetzungen ein gewisses Vertrauen auf den
„gesunden Menschenverstand“ gehört, jemals zu revidieren38.
Wie aber die Platoniker die neuartige Begründung sittlicher
Normen verstanden, illustriert eine mehrfach überlieferte Anek-
dote, die in einem Werk des großen Gelehrten Eratosthenes aus
dem 3. Jh. v.C. stand39. Der Gott Apollon wies die Einwohner der
Insel Delos an, ihm zur Vermeidung einer Seuche einen Altar zu
errichten, der die doppelte Größe und dieselbe Form des vorhan-
denen, würfelförmigen haben sollte. Der Architekt kam mit der
Aufgabe einer Würfelverdoppelung, die mit den Mitteln der dama-
ligen Mathematik unlösbar war, nicht zu Rande, und man wandte
sich an Platon um Rat. Der aber erklärte den Deliern, der Gott habe
sie mit seinem Orakel zum Studium der Geometrie aufgefordert,
das - wie die gestellte Aufgabe zeigt - ohne Begrenzung sei, sie zu
sittlicher Tüchtigkeit erziehen und den Gott darum von der Sen-
dung einer Seuche abhalten werde.
Sittliche Lebensführung soll also im Bemühen um die exak-
teste, von der Sinneserfahrung und damit der praktischen Lebens-
38 Dazu H. Görgemanns, Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, Mün-
chen 1960, 4; 74-81. Auf den gegenüber der Philosophie geringeren Wert sol-
cher als notwendig erkannten Betrachtungen verweist ausdrücklich Leg. 803 B/C.
39 Die Texte zusammengestellt bei H. Dörrie, Der Platonismus in der Antike I,
Stuttgart 1987, 118 ff.
 
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