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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0029
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Vom gesunden Menschenverstand

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Die Überschätzung einer scheinbar widerspruchsfreien Theorie
bedeutet stets die Unterschätzung menschlicher Fehlbarkeit und
der Vorläufigkeit allen menschlichen Wissens. Das ist vielleicht die
gefährlichste Versuchung bei allem menschlichen Tun. Das
„gesunde Volksempfmden“ unseligen Angedenkens und die Qua-
lifizierung unsozialistischer Meinungen als pathologisch standen
durchweg gerade im Gegensatz zum Urteil des an der gesellschaft-
lichen Tradition orientierten „gesunden“ Menschenverstandes,
weil sie sich auf angeblich sichere und endgültige Einsichten der
Biologie bzw. Geschichtstheorie und Ökonomie gründeten. Als
Legitimation politischer Ideologien in der Neuzeit dienten durch-
weg als definitiv angesehene Resultate wissenschaftlicher For-
schung, deren unvermeidliche Vorläufigkeit man nicht zugeben
wollte, weil Wissenschaft zum Religionsersatz geworden war und
darum aller Tradition vorgezogen wurde57.
Es gab mehrere Wege, auf denen die Philosophen des Hellenis-
mus die Vulgärmeinung zu ihrer Lehre in positive Beziehung
setzen konnten.
Der eine Weg wurde durch die skeptische Tradition gewiesen.
Auf der Grundlage der Überzeugung, daß beweisbare Wahrheit
außerhalb der Reichweite des Menschen liege, hatte sich um 300 v. C.
eine Philosophenschule gebildet. Dort hoffte man, gerade aus der
gesicherten Einsicht in diesen Mangel der Menschennatur jene
Seelenruhe zu erwerben, nach der es die Menschen in jener Zeit
des Umbruchs verlangte58 59. Die skeptische Tradition wurde eine
Generation später von der Schule Platons aufgegriffen, diesmal
aber mit der erklärten Absicht, den Anspruch der neuen dogmati-
schen Schulen zu widerlegen, ein begrenztes, aber sicheres Wissen
von Welt und Mensch als Grundlage rechter Lebensführung zu
lehren. Dasselbe hatte einst Sokrates mit seiner ars nesciendi
gegenüber jedem angemaßten Wissen getan5q. In dieser Ausein-
andersetzung entwickelte man auf beiden Seiten, der dogmati-
schen und der skeptischen, mancherlei Techniken der Argumenta-
tion, denn die Widerlegung einer kohärenten Theorie fordert meist
ebenso viel Scharfsinn wie ihre Verteidigung. Davon profitierte
sowohl die Philosophie als auch die verschiedensten Wissenschaf-
ten in der Ausbildung ihrer Methoden.

57 Vgl. K. D. Bracher, Zeit der Ideologien, Stuttgart 1982.
58 Pirrone, Testimonianze coli. F. Decleva-Caizzi, Napoli 1981, Nr. 17; 53 u. ö.
59 o. Anm. 35.
 
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