Vom gesunden Menschenverstand
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anzuerkennen, sofern keine der Atomtheorie widersprach62. Die-
ser Verzicht auf stringente Einzelerklärung - später in der Ausein-
andersetzung mit anderen Schulen oft aufgegeben - war ein
Gegenstück zur Bewertung des Sinneseindrucks. Ihn kann man
nach epikureischer Ansicht im Zweifelsfall nur durch die wieder-
holte Sinneswahrnehmung desselben Objektes, nicht aber durch
Nachdenken korrigieren, um zu einer zutreffenden Einsicht zu
kommen63. In der Ethik entsprach dem die Anerkennung traditio-
neller Normen, deren Nützlichkeit in ähnlicher Weise unmittelbar
einleuchtet wie die Evidenz eines Sinneseindrucks. Ein Enkel-
schüler Epikurs, Polystratos, verfaßte einen eigenen Traktat gegen
diejenigen, die, wie der Titel sagt, „törichterweise“ die Vulgär-
meinung verachten64. Von einem anderen Epikureer, Kolotes65,
kennen wir einen Text, der die Wohltat gesellschaftlicher Konven-
tion rühmt. Zwar kommen die Konventionen keineswegs alle aus
Einsicht in die Naturordnung, sondern nur aus dem Herkommen.
Aber sie machen das Handeln der Menschen berechenbar und
ermöglichen es dem Weisen, seine eleuthera biote, sein freies, von
rechter Erkenntnis der Natur geleitetes Leben ungestört zu führen.
Gerade er wird deshalb diese Normen einhalten, denn Ordnung ist
besser als Unordnung, selbst wenn ihr Gerechtigkeit mangelt - ein
Grundsatz übrigens, in dem Epikur mit Platon übereinstimmte66.
In der Schule der Stoiker kam der Alltagsverstand auf anderem
Wege zu seinem Recht. Anders als die Epikureer, die mit einem
allmählichen Aufstieg der Menschheit aus halbtierischen, dump-
fen Anfängen rechneten, glaubten die Stoiker an eine Goldene
Urzeit, aus der ein steter Abstieg in die Gegenwart führt67. Im
Urzustand hatten die Menschen ein angeborenes Wissen von Welt
und Mensch, das sie zu richtigem, naturgemäßem Handeln befä-
62 Lucr. 2,393f. u.ö.
63 Epic. fr. 227-229 und 247-254 Usenet.
64 Dazu M. Gigante, Scetticismo ed Epicureismo, Napoli 1981, vor allem 104ff;
dort auch über skeptische Elemente in anderen hellenistischen Schulen.
65 Plut. adv. Col. 30; dazu A. A. Long, Entr. Fond. Hardt 32, 1986, 283ff.
66 Plat. Leg. 798 Aff; ähnlich Aristot. Pol. 1269a 5, Demosth. or. 21, 177; 24,130.
67 SVF 3, 228/229 A über den Urzustand und den Abstieg der Menschheit; vgl. B.
Gatz, Weltalter, Goldene Urzeit und verwandte Vorstellungen, Hildesheim
1962. Auch die stoische Lehre von den koinai ennoiai, den allen Menschen
angeborenen Vorstellungen (SVF 2,473) und vom sog. Naturrecht (SVF
3,308ff.) gehört in diesen Zusammenhang. Die entgegengesetzte Lehre der
Epkureer vom Aufstieg der Menschheit aus dumpfen, tierhaften Anfängen
zusammengefaßt bei Epic. ep. ad Her. 75 und Lucr. 5,925ff.
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anzuerkennen, sofern keine der Atomtheorie widersprach62. Die-
ser Verzicht auf stringente Einzelerklärung - später in der Ausein-
andersetzung mit anderen Schulen oft aufgegeben - war ein
Gegenstück zur Bewertung des Sinneseindrucks. Ihn kann man
nach epikureischer Ansicht im Zweifelsfall nur durch die wieder-
holte Sinneswahrnehmung desselben Objektes, nicht aber durch
Nachdenken korrigieren, um zu einer zutreffenden Einsicht zu
kommen63. In der Ethik entsprach dem die Anerkennung traditio-
neller Normen, deren Nützlichkeit in ähnlicher Weise unmittelbar
einleuchtet wie die Evidenz eines Sinneseindrucks. Ein Enkel-
schüler Epikurs, Polystratos, verfaßte einen eigenen Traktat gegen
diejenigen, die, wie der Titel sagt, „törichterweise“ die Vulgär-
meinung verachten64. Von einem anderen Epikureer, Kolotes65,
kennen wir einen Text, der die Wohltat gesellschaftlicher Konven-
tion rühmt. Zwar kommen die Konventionen keineswegs alle aus
Einsicht in die Naturordnung, sondern nur aus dem Herkommen.
Aber sie machen das Handeln der Menschen berechenbar und
ermöglichen es dem Weisen, seine eleuthera biote, sein freies, von
rechter Erkenntnis der Natur geleitetes Leben ungestört zu führen.
Gerade er wird deshalb diese Normen einhalten, denn Ordnung ist
besser als Unordnung, selbst wenn ihr Gerechtigkeit mangelt - ein
Grundsatz übrigens, in dem Epikur mit Platon übereinstimmte66.
In der Schule der Stoiker kam der Alltagsverstand auf anderem
Wege zu seinem Recht. Anders als die Epikureer, die mit einem
allmählichen Aufstieg der Menschheit aus halbtierischen, dump-
fen Anfängen rechneten, glaubten die Stoiker an eine Goldene
Urzeit, aus der ein steter Abstieg in die Gegenwart führt67. Im
Urzustand hatten die Menschen ein angeborenes Wissen von Welt
und Mensch, das sie zu richtigem, naturgemäßem Handeln befä-
62 Lucr. 2,393f. u.ö.
63 Epic. fr. 227-229 und 247-254 Usenet.
64 Dazu M. Gigante, Scetticismo ed Epicureismo, Napoli 1981, vor allem 104ff;
dort auch über skeptische Elemente in anderen hellenistischen Schulen.
65 Plut. adv. Col. 30; dazu A. A. Long, Entr. Fond. Hardt 32, 1986, 283ff.
66 Plat. Leg. 798 Aff; ähnlich Aristot. Pol. 1269a 5, Demosth. or. 21, 177; 24,130.
67 SVF 3, 228/229 A über den Urzustand und den Abstieg der Menschheit; vgl. B.
Gatz, Weltalter, Goldene Urzeit und verwandte Vorstellungen, Hildesheim
1962. Auch die stoische Lehre von den koinai ennoiai, den allen Menschen
angeborenen Vorstellungen (SVF 2,473) und vom sog. Naturrecht (SVF
3,308ff.) gehört in diesen Zusammenhang. Die entgegengesetzte Lehre der
Epkureer vom Aufstieg der Menschheit aus dumpfen, tierhaften Anfängen
zusammengefaßt bei Epic. ep. ad Her. 75 und Lucr. 5,925ff.