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Martin Heckel
Diese Grundspannung ist auch nach der deutschen Einigung nicht
gelöst, sondern fatal verfestigt worden. Die Neufassung der Präambel
wie des Schlußartikels 146 durch Art. 4 Ziff. 1 und 6 des Einigungsver-
trags bestätigen einerseits, daß das Grundgesetz „nach Vollendung der
Einheit und Freiheit Deutschlands“ nun „für das gesamte deutsche
Volk“ „kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt“ als Dauerverfassung
„gilt“; seine Provisoriumscharakterisierung von 1949 „für eine Über-
gangszeit“ wurde gestrichen. Aber andererseits wurde im neugefaßten
Schlußartikel 146 die Vorläufigkeitsgeltung der Verfassung erneut sta-
tuiert: „Dieses Grundgesetz ... verliert seine Gültigkeit an dem Tage,
an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in
freier Einigung beschlossen worden ist.“
3. Der Ablösungsartikel 146 ist am Schluß der Verfassung wie eine
Sphinx gewaltig aufgetürmt, die ihren langen dunklen Schatten über al-
le vorangehenden Artikel wirft. Die deutsche Einheit, so überraschend
rasch sie auch politisch zustandekam und rechtstechnisch perfektioniert
wurde, ruht letztlich auf ungeklärten Verfassungsfundamenten: Ist nun
die volle demokratische Legitimation der Verfassung durch das deutsche
Volk „kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt“ (Präambel n. F.) jetzt
schon erbracht und durch Art. 79 Abs. 3 GG auf alle Zukunft gesichert,
oder ist sie durch einen gesamtdeutschen Verfassunggebungsakt erst
künftig zu erringen? Ist also durch den Einigungsvertrag die Zukunfts-
vision des großen, das Grundgesetz ablösenden gesamtdeutschen Ver-
fassunggebungsaktes endgültig aufgegeben worden? Ist etwa der vorsich-
tigen Regierungsempfehlung in Art. 5 des Einigungsvertrages eine authen-
tische Interpretation des mysteriösen Schlußartikels zu entnehmen?
Oder ist das Grundgesetz nun nach Herstellung der Staatseinheit durch
eine modernere und den Erfahrungen des Ostens angepaßte Verfassung
abzulösen? Oder muß es nicht zumindest vom vereinten Volk durch
Volksentscheid bestätigt werden, nachdem es ihm von den Regierungen
in der Hektik der Beitrittsverhandlungen übergestülpt erscheint? Oder
hat das Grundgesetz gar seine Geltung eingebüßt, weil es ja 1949 vom
Verfassunggeber nur „für eine Übergangszeit“ erlassen worden war?
Gewiß: In der Staatspraxis sind diese Diskussionen derzeit (!) einge-
schlummert3, da angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse keine
Vgl. die Übersicht über die Verhandlungen bei Michael Sachs, Das Grundgesetz im
vereinigten Deutschland, in: JuS 1991, S. 985 (988 ff.); und bei Isensee (N 1), S. 46 ff.
Die Regierungskoalition und Oppositionsparteien einigten sich auf die vorsichtige
Empfehlung der Regierungen an die gesetzgebenden Körperschaften, sich „mit der
Martin Heckel
Diese Grundspannung ist auch nach der deutschen Einigung nicht
gelöst, sondern fatal verfestigt worden. Die Neufassung der Präambel
wie des Schlußartikels 146 durch Art. 4 Ziff. 1 und 6 des Einigungsver-
trags bestätigen einerseits, daß das Grundgesetz „nach Vollendung der
Einheit und Freiheit Deutschlands“ nun „für das gesamte deutsche
Volk“ „kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt“ als Dauerverfassung
„gilt“; seine Provisoriumscharakterisierung von 1949 „für eine Über-
gangszeit“ wurde gestrichen. Aber andererseits wurde im neugefaßten
Schlußartikel 146 die Vorläufigkeitsgeltung der Verfassung erneut sta-
tuiert: „Dieses Grundgesetz ... verliert seine Gültigkeit an dem Tage,
an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in
freier Einigung beschlossen worden ist.“
3. Der Ablösungsartikel 146 ist am Schluß der Verfassung wie eine
Sphinx gewaltig aufgetürmt, die ihren langen dunklen Schatten über al-
le vorangehenden Artikel wirft. Die deutsche Einheit, so überraschend
rasch sie auch politisch zustandekam und rechtstechnisch perfektioniert
wurde, ruht letztlich auf ungeklärten Verfassungsfundamenten: Ist nun
die volle demokratische Legitimation der Verfassung durch das deutsche
Volk „kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt“ (Präambel n. F.) jetzt
schon erbracht und durch Art. 79 Abs. 3 GG auf alle Zukunft gesichert,
oder ist sie durch einen gesamtdeutschen Verfassunggebungsakt erst
künftig zu erringen? Ist also durch den Einigungsvertrag die Zukunfts-
vision des großen, das Grundgesetz ablösenden gesamtdeutschen Ver-
fassunggebungsaktes endgültig aufgegeben worden? Ist etwa der vorsich-
tigen Regierungsempfehlung in Art. 5 des Einigungsvertrages eine authen-
tische Interpretation des mysteriösen Schlußartikels zu entnehmen?
Oder ist das Grundgesetz nun nach Herstellung der Staatseinheit durch
eine modernere und den Erfahrungen des Ostens angepaßte Verfassung
abzulösen? Oder muß es nicht zumindest vom vereinten Volk durch
Volksentscheid bestätigt werden, nachdem es ihm von den Regierungen
in der Hektik der Beitrittsverhandlungen übergestülpt erscheint? Oder
hat das Grundgesetz gar seine Geltung eingebüßt, weil es ja 1949 vom
Verfassunggeber nur „für eine Übergangszeit“ erlassen worden war?
Gewiß: In der Staatspraxis sind diese Diskussionen derzeit (!) einge-
schlummert3, da angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse keine
Vgl. die Übersicht über die Verhandlungen bei Michael Sachs, Das Grundgesetz im
vereinigten Deutschland, in: JuS 1991, S. 985 (988 ff.); und bei Isensee (N 1), S. 46 ff.
Die Regierungskoalition und Oppositionsparteien einigten sich auf die vorsichtige
Empfehlung der Regierungen an die gesetzgebenden Körperschaften, sich „mit der