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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0020
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Martin Heckel

heit und Kontinuität im Umbruch. Dies war auch eine Folge der prinzi-
piellen Verflechtung von Staat und Gesellschaft im sozialistischen Sy-
stem. In allen Ostblockstaaten realisierte sich die Verfassunggebende
Gewalt des Volkes im revolutionären Umbruch deshalb nicht mit dem
Paukenschlag einer Verfassunggebung, sondern in einem langwierigen
und mühseligen, vielfältig gegliederten legislatorischen Prozeß. Anders
als die großen historischen Revolutionen konnte sich die Umwälzung ja
nicht auf den Wechsel der politischen Herrschaftsstruktur beschränken,
sondern mußte in allen Lebensbereichen der Wirtschaft und der gesell-
schaftlichen Ordnung unter Anknüpfung an das Bestehende normativ
umgesetzt werden.
c) Indessen: Die Verfassungsänderungen, durch die die kommunisti-
schen Machteliten die Revolution auffingen und eilfertig in juristische
Form brachten, sich dabei auch - anders als die 1945 gestürzten Macht-
haber - günstige Ausgangspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft für das neue Spiel im pluralistischen System sichern konnten, wer-
fen intrikate Rechtsprobleme auf: Die Kompetenzen des verfassungs-
ändernden Gesetzgebers sind durch die Fundamentalentscheidung des
Verfassunggebers beschränkt, deren Verletzung die Nichtigkeit einer
Verfassungsänderung zur Folge hat \ Diese in der Weimarer Zeit ent-
wickelte und heute in Art. 79 Abs. 3 GG gesicherte Erkenntnis galt auch
für die sozialistischen Verfassungen: Nach ihrem pathetisch prokla-
mierten kommunistischen Verfassungsverständnis haben sie keines-
wegs den Staatsorganen die Kompetenz zur „Konterrevolution“ einge-
räumt. Die Volkskammer handelte in eigenmächtiger Überschreitung
ihrer bisherigen Kompetenz, wenn sie der sozialistischen DDR-Verfas-
sung von 1968/74 den diametral entgegengesetzten Sinn einer freiheit-
lich-pluralistischen Verfassung unterschob. Auch sie machte Revolu-
tion - „Revolution von oben“ - in selbsternannter Autorität und ohne
demokratisches Mandat, während das Volk auf der außerstaatlichen
Ebene diffus weiterdiskutierte, ohne sich zur Machtergreifung zu for-
mieren. Diese „Verfassungsänderungen“ waren lediglich ein Angebot
an das Volk als Träger der Verfassungsgebenden Gewalt, die neue Ord-
nung aus der Hand der diskreditierten und nicht hierfür legitimierten
„Volksvertreter“ anzunehmen und durch seinen nachfolgenden Kon-
sens in Kraft zu setzen.
d) Die turbulente Verfassungsentwicklung der DDR nach der Wen-
de läßt sich nur in der Differenzierung dreier Phasen begreifen, in de-
15C. Schmitt (N 10), S. 25 f„ 102 ff.; Quaritsch (N 13), S. 319 ff.
 
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