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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0022
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Martin Heckel

Schluß Österreichs durch das Deutsche Reich i.J. 1938 kann keine Re-
de sein; der Beitritt ist davon durch eine Welt geschieden. Der Beitritt
schloß notwendigerweise (1.) die Auflösung der DDR als Staat, (2.) die
Aufhebung der DDR-Verfassung und (3.) die Erstreckung des Grund-
gesetzes auf das Staatsvolk und Staatsgebiet der DDR in sich. Der Bei-
trittsbeschluß enthielt insofern einen Akt der negativen wie der positi-
ven Verfassunggebung; die Volkskammer hat ihn gleichsam in Ersatz-
funktion für eine Konstituante der Ostregion erklärt, wie es dem
konstituierenden Charakter der zukunftsentscheidenden Märzwahlen
entspricht.
Die Übernahme des Grundgesetzes ist damit demokratisch legiti-
miert - wobei freilich angesichts des Art. 146 GG a.F. wie n.F. offen
blieb, ob das Grundgesetz nur als eine vorläufige oder als die endgültige
Verfassung der deutschen Einheit zu Grunde gelegt werden sollte. Aber
diese Frage stand damals nicht zur Entscheidung an. Sie fiel auch gar
nicht in die Kompetenz der DDR-Bevölkerung, sondern war allenfalls
von dem gesamtdeutschen Volk in einem späteren Verfahren zu tref-
fen. Bei diesem Stande ist es bis heute geblieben. Die demokratische Le-
gitimation ist erfolgt; die demokratischen Änderungsmöglichkeiten - ob
opportun oder inopportun - stehen offen.
4. Im Westen hingegen kam es zu keiner Revolution und zu keinem
neuen Akt der Verfassunggebung. Das Volk nahm als Zuschauer am
Fernsehschirm die Umwälzungen im Osten zur Kenntnis, die Alten tief
ergriffen, die Jungen weniger, jedoch auch sie durchaus nicht wider-
strebend. Wo also war das Volk im Westen?
a) Die Einigung verlief mithin hüben wie drüben abnorm normal: Ab-
norm normal im Osten, weil dort die umstürzenden Verfassung-
gebungsakte in die verschleiernde, die außen- und innenpolitische Bri-
sanz verbergende Form normaler Verfassungsänderungen eingekleidet
wurden. Abnorm im Westen, weil dort das Ob und Wie des Einigungs-
geschehens nicht einmal Gegenstand eines Bundestagswahlkampfes
war, sondern die unter ganz anderen politischen Vorzeichen gewählte
Volksvertretung und Regierung die von der ostdeutschen Revolution
eröffneten Chancen für die deutsche Einheit nutzten. Daß sie dabei im
Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen handelten, kann ju-
ristisch nicht bezweifelt werden. Doch ist die Frage, ob die technisch-ju-
ristische Perfektion hierfür im tieferen Sinn genügt? Es dürfte unbe-
streitbar sein: Die Art der Wiedervereinigung und ihr verfassungs-
 
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