Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage
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dings pathetisch vorgeschlagen wird: durch die „Selbstbindung“ der Ver-
fassunggebenden Gewalt verliere diese ihre extrakonstitutionelle ori-
ginäre Wucht und werde wie die verfaßten Gewalten an das Verfas-
sungsrecht gebunden. Zwar ist es in banaler Weise evident, daß sich das
Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt normalerweise, d.h. in
politisch normalen Zeiten, selbst an seine Verfassungsnormen hält und
alle verfaßten Gewalten an sie bindet; dazu hat es sie ja gesetzt. Wirft es
sie aber ab, weil es die fundamentalen Normenentscheidungen der Vor-
väter durch seine eigenen ersetzen will, dann kann die neugesetzte, vom
Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt originär durchgesetzte
Verfassung nicht nach den Normen der alten, vom Volk verworfenen, von
der Geschichte überholten Verfassung beurteilt und als nichtig angese-
hen werden. Hat sich das Volk in breiter Front gegen die Verfassung er-
hoben und ihren (in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) demokratisch begründe-
ten Geltungsanspruch kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt beseitigt,
dann dürfen die konstituierten Staatsorgane es nicht „verfassungsmäßig“
niederknüppeln und zusammenschießen lassen. Sie müssen dann - wie
dies 1919 beispielhaft geschah - für die Überleitung in einen neuen Ver-
fassungszustand sorgen und einen Verfassunggebungsprozeß einleiten,
selbst wenn sie vordem demokratisch legal und legitim nach der vergan-
genen Verfassungsordnung ins Amt gekommen sind. Der Versuch, die
Verfassunggebende Gewalt des Volkes durch eine zerbrechende, nicht
mehr demokratisch legitimierte Verfassung bändigen zu wollen, verkennt
die Grundvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsrechts und
zeugt von politischem wie juristischem Wirklichkeitsverlust.
IV.
Zur Interpretation
des Art. 146 GG n.F:
In den oben aufgezeigten sechs Auslegungsvarianten wird jeweils ein
richtiger Teilaspekt erkannt, doch nicht zum überzeugenden Ergebnis
entwickelt, weshalb sich eine siebte Lösung nahelegt.
1. Die erste Ansicht - dilatorischer Formelkompromiß ohne Sachaus-
sage - kann nicht überzeugen:
Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,2. A., München 1984, S. 152 f„ nach
dem Vorbild von Georges Burdeau) stiftet Verwirrung, da dadurch der Unterschied
zwischen der (an die Verfassung gebundenen) verfaßten Gewalt und der (durch diese
nicht beschränkbaren) originären Verfassunggebenden Gewalt theoretisch verunklart
und praktisch aufgelöst wird. Zu den bedenklichen Folgen s.u. S. 41.
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dings pathetisch vorgeschlagen wird: durch die „Selbstbindung“ der Ver-
fassunggebenden Gewalt verliere diese ihre extrakonstitutionelle ori-
ginäre Wucht und werde wie die verfaßten Gewalten an das Verfas-
sungsrecht gebunden. Zwar ist es in banaler Weise evident, daß sich das
Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt normalerweise, d.h. in
politisch normalen Zeiten, selbst an seine Verfassungsnormen hält und
alle verfaßten Gewalten an sie bindet; dazu hat es sie ja gesetzt. Wirft es
sie aber ab, weil es die fundamentalen Normenentscheidungen der Vor-
väter durch seine eigenen ersetzen will, dann kann die neugesetzte, vom
Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt originär durchgesetzte
Verfassung nicht nach den Normen der alten, vom Volk verworfenen, von
der Geschichte überholten Verfassung beurteilt und als nichtig angese-
hen werden. Hat sich das Volk in breiter Front gegen die Verfassung er-
hoben und ihren (in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) demokratisch begründe-
ten Geltungsanspruch kraft seiner Verfassunggebenden Gewalt beseitigt,
dann dürfen die konstituierten Staatsorgane es nicht „verfassungsmäßig“
niederknüppeln und zusammenschießen lassen. Sie müssen dann - wie
dies 1919 beispielhaft geschah - für die Überleitung in einen neuen Ver-
fassungszustand sorgen und einen Verfassunggebungsprozeß einleiten,
selbst wenn sie vordem demokratisch legal und legitim nach der vergan-
genen Verfassungsordnung ins Amt gekommen sind. Der Versuch, die
Verfassunggebende Gewalt des Volkes durch eine zerbrechende, nicht
mehr demokratisch legitimierte Verfassung bändigen zu wollen, verkennt
die Grundvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsrechts und
zeugt von politischem wie juristischem Wirklichkeitsverlust.
IV.
Zur Interpretation
des Art. 146 GG n.F:
In den oben aufgezeigten sechs Auslegungsvarianten wird jeweils ein
richtiger Teilaspekt erkannt, doch nicht zum überzeugenden Ergebnis
entwickelt, weshalb sich eine siebte Lösung nahelegt.
1. Die erste Ansicht - dilatorischer Formelkompromiß ohne Sachaus-
sage - kann nicht überzeugen:
Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,2. A., München 1984, S. 152 f„ nach
dem Vorbild von Georges Burdeau) stiftet Verwirrung, da dadurch der Unterschied
zwischen der (an die Verfassung gebundenen) verfaßten Gewalt und der (durch diese
nicht beschränkbaren) originären Verfassunggebenden Gewalt theoretisch verunklart
und praktisch aufgelöst wird. Zu den bedenklichen Folgen s.u. S. 41.