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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0040
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Martin Heckel

tastbarkeitsbestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde. Art.
146 GG n.F. ist eben nach Rechtscharakter, Tatbestandsvoraussetzun-
gen und Rechtsfolgen nicht sachidentisch mit dem alten Schlußartikel,
der überdies eine Verfassungsablösung nur für den Einigungsfall, der
sich jetzt nicht mehr stellen kann, erlaubte.
Ein Verfassunggebungsakt ist auch keineswegs zur Überwindung des
demokratischen Ursprungsdefizits und des Provisoriumscharakters des
Grundgesetzes veranlaßt oder gar geboten:
b) Der „Geburtsmakel^, daß die Besatzungsmächte bei der Entste-
hung des Grundgesetzes maßgeblich mitzuwirken hatten, ist spätestens
mit der Ablösung des Besatzungsregimes und der Wiedererlangung der
deutschen Souveränität seit dem 5. 5. 195£ entfallen, ohne daß bisher
jemals jemand die Notwendigkeit einer plebiszitären Bestätigung oder
Ersetzung der deutschen Verfassung empfunden hätte. Und daß der Par-
lamentarische Rat nicht als konstituierende Nationalversammlung vom
Volk gewählt worden war, wurde längst dadurch wettgemacht, daß das
Volk als Träger der Verfassunggebenden Gewalt das Grundgesetz in brei-
tem Konsens angenommen hat, wie die Kette der Bundestagswahlen aus
vier Jahrzehnten, zuletzt im Herbst 1990 und 1994 nach Abschluß der Ei-
nigung, mit hoher Wahlbeteiligung erkennen läßt. So hat auch die Beru-
fung der Präambel a.F. wie n.F. auf die Verfassunggebende Gewalt des
deutschen Volkes ihren guten normativen Sinn. Sie will als zukunftsge-
richtete verfassungsrechtliche Behauptung des deutschen Selbstbestim-
mungsrechts, nicht als retrospektive historische Klitterung der Vorge-
schichte des Grundgesetzes in der Besatzungszeit verstanden sein50: Das
Grundgesetz wollte und sollte kraft der Verfassunggebenden Gewalt des
deutschen Volkes - nicht der Besatzungsmächte - gelten, wurde in die-
sem Sinn dem Volke zum freien Selbstverständnis angeboten und von ihm
angenommen und ständig ausgeübt. In der Präambel a.F. äußert sich in-
sofern ein verhaltener Protest, als der Verfassungstext und -sinn nach sei-
nem Selbstverständnis die historische Mitwirkung der Besatzungsmächte
schon 1949 „souverän“ ignoriert und eben den normativen Ursprung der
künftigen Verfassungsgeltung ausschließlich auf das Selbstbestimmungs-
49 Vgl. zur „Geburtsmakel-Theorie“ Wahl (N 7), S. 476; Storost (N 7), S. 325 f.: Hans Mey-
er, Diskussionsbeitrag in: VVDStRL 49 (1990), S. 163 ff.; Mahrenholz (N 7), S. 27; H.-
P. Schneider (N 9), § 158 Rn. 37. - A. A. Isensee (N 1), S. 34 ff.; Blumenwitz (N 5), S. 18
ff.; Peter Badura, Die Verfassungsfrage im wiedervereinigten Deutschland, in: Bitbur-
ger Gespräche 1991/92, S. 23 (41); Zippelius (N 6), S. 291; Kirchhoff 8), S. 17 ff.
Im Gegensatz hierzu verlangt Peter Häberle, Die Verfassunggebende Gewalt des
Volkes, in: ders., Rechtsvergleichung (N 41), S. 174, in der Präambel eine historische
Dokumentation des Verfassungsgebungsvorgangs, „wie er sich tatsächlich ereignet hat“.
 
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