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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0044
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Martin Heckel

gung finden, die das System und Telos der Verfassung nicht sprengt,
sondern den notvoll ausgehandelten Kompromiß des verfassungsän-
dernden Gesetzgebers ernst nimmt und den Respekt der Theorie und
Praxis vor der Verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der normalen
wie auch in einer revolutionären Situation bezeugt.
2. Die verfassungsablösende Totalrevision'7 ist ein Akt der verfaßten
Gewalten, nicht der originären Verfassunggebenden Gewalt'7. Formell
geschieht sie in der konstitutionellen Kontinuität eines besonders aus-
gestalteten Verfassungsrevisionsverfahrens, nicht in der revolutionären
Diskontinuität der Verfassungsbeseitigung und neuen Verfassung-
gebung. Materiell aber wird damit die Verfassung „total“ zur Dispositi-
on gestellt, d.h. insgesamt einer prinzipiellen Deliberation und neuen
Dezision unterzogen, so daß sie durch die umfassende Neuentscheidung
all ihrer Sachsubstanz und Rechtsformen als ganzes „ihre Gültigkeit ver-
liert“, auch wenn bewährtes Verfassungsgut hierbei übernommen wer-
den kann. Die Totalrevision betrifft nicht den pouvoir constituant, son-
dern den pouvoir constitue, weil sie von den verfaßten Gewalten 1990
im Verfassungsänderungsverfahren neu geregelt wurde, während der
Verfassunggeber durch die verfaßten Gewalten weder ermächtigt, noch
57 Zur Rechtsfigur der Totalrevision vgl. allgemein Kurt Eichenberger, Der Staat der Ge-
genwart, ausgewählte Schriften, Basel, Frankfurt/M. 1980, S. 184 ff.; ders., Verfassung
des Kantons Aargau, Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 1986, § 123 Nr. 1 ff.; Ulrich Häfe-
lin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. A., Zürich 1993, § 34 Rn. 936
ff.; Peter Rüegg, Über den Verfassungsrat in der heutigen Schweiz, Zürich 1989, S. 35
ff., 82 ff., 119 ff., 195 ff.; Häberle (N 41), S. 160 ff.; Antonio Lopez Pina (Hrsg.), Spani-
sches Verfassungsrecht, Heidelberg 1993, S. 91 ff. (de Vega, Schutz der Verfassung, S.
94 ff., 108); ein Totalrevisionsverfahren ist auch in Art. 115 der Brandenburger Ver-
fassung vorgesehen. - Es ist freilich zu beachten, daß das Institut der Totalrevision ver-
schiedenen Zwecken dienen und dementsprechend eine sehr verschiedene Ausgestal-
tung erfahren kann. Damit kann einereits eine umfassende systematische Überprüfung
des geltenden Verfassungsrechts aus Anlaß bestimmter aktueller Reformvorhaben ge-
meint sein, welche in einer politischen Normalsituation fest auf dem Boden der verfas-
sungsrechtlichen Kontinuität erfolgt, also eine Reihe spezieller Verfassungsänderun-
gen sachlich und redaktionell koordinieren und zusammenfassen will, sich deshalb vom
Typ der normalen Verfassungsänderung nur mit gewissen Modifikationen unterschei-
det. Ganz anders ist eine „verfassungsablösende“ Totalrevision zu verstehen, die -
gleichsam als Ersatz für eine originäre Verfassunggebung - die Möglichkeit zur sach-
lichen Diskontinuität im Auge hat und sich deshalb nach Sinn und Zweck, Voraus-
setzungen, Verfahren und Rechtsfolgen wesentlich vom normalen Verfassungsände-
rungsverfahren unterscheidet.
" Vgl. oben S. 37: Da Art. 146 GG n.F. 1990 durch Art. 4 und 5 des Einigungsvertrages
von den verfaßten Gewalten durch Verfassungsänderung eingeführt wurde und ebenso
zur Regelung der Initiative und des Verfahrens ergänzt werden muß, können nur wie-
derum verfaßte Gewalten dazu ermächtigt sein; dies allein entspricht dem Verhältnis
der Verfassunggebenden zur verfaßten Gewalt, vgl. oben S. 24.
 
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