Metadaten

Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0046
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
44

Martin Heckel

Meinungsfreiheit, das ja ansonsten des Recht zur distanzierten Ignorie-
rung sinistrer Meinungen und Programme in sich schließt.

5. Die erste Verfahrensstufe sollte der Antrag auf Eröffnung der To-
talrevision durch das Volksbegehren bzw. den Beschluß der gesetzge-
benden Körperschaften bilden. - Auf der zweiten Stufe sollte ein Volks-
entscheid der gesamten Wählerschaft über die Eröffnung befinden.
Auch hierfür ist ein hohes Quorum zu verlangen. Wenn sich weniger als
die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt, sollte die Totalrevision nicht
eröffnet sein, da dies erkennen läßt, daß das Volk als Träger der Ver-
fassunggebenden Gewalt in seiner Breite die geltende Verfassung nicht
abgelöst wissen will. - Als dritte Stufe ist die Wahl eines besonderen Ver-
fassungskonvents zu fordern, der in einer Verfassungskrise nicht durch
die parlamentarische Routinearbeit belastet sein sollte ", Für die Ver-
fassungserneuerung sollte das Volk geeignete Persönlichkeiten und
Richtungen wählen können, ohne an seine sonstigen parteipolitischen
Präferenzen und Interessenverflechtungen gebunden zu sein. - Im vier-
ten Verfahrensstadium hat dieser Verfassungskonvent die neue Ver-
fassung in Kooperation mit der Bundesregierung, dem Bundestag und
den Ländern zu entwerfen und mit qualifizierter Mehrheit zu be-
schließen , damit sie auf breiter Konsensgrundlage im Verfassungs-
konvent erstellt und später vom Volk akzeptiert werden kann. - Auf ei-
ner fünften Stufe sollte dann eine Volksabstimmung über den im reprä-
sentativen Verfahren erstellten Entwurf entscheiden. Dadurch wird der
für die Demokratie tödliche Verdacht einer Entfremdung der Reprä-
sentanten vom Volk schlagend widerlegt.

60 Diese im Kanton Aargau gewählte Regelung ist derjenigen der Schweizer Bundesver-
fassung vorzuziehen. Eichenberger, Verfassung des Kantons Aargau (N 57), § 121 Rn.
10, § 123 Rn. 4. - Nur die Kombination plebiszitärer und repräsentativer Elemente er-
möglicht die breite Verankerung im Volk, die umfassende Beteiligung aller politischen
Kräfte, die rationale und zugleich öffentlich transparente Diskussion, die Einbringung
des Sachverstands, die breite Anteilnahme der öffentlichen Meinung und eine verant-
wortliche, auf breitem Konsens der Bevölkerung beruhende Verfassungsentscheidung.
61 Ein („naturrechtlicher“) Rechtssatz, daß im Verfassunggebungsverfahren einfache
Mehrheiten entscheiden, exisiert nicht. Das Verfassunggebungsverfahren der Kultur-
nationen ist sehr verschieden praktiziert worden. Auch bildet es einen grundsätzlichen
Unterschied, ob eine Verfassunggebung nach einer Revolution erfolgt, die die frühere
Verfassung hinweggefegt hat, oder ob eine Totalrevision auf der Basis der Kontinuität
der bisherigen Verfassungsgeltung geschieht und somit bei Scheitern des Revisions-
verfahrens kein untragbares verfassungsrechtliches Vakuum entsteht.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften