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Seeliger-Zeiss, Anneliese; Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste [Mitarb.]; Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Bayerische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig [Mitarb.]; Österreichische Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften in Göttingen [Mitarb.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Mitarb.]
Die deutschen Inschriften: DI (Band 47 = Heidelberger Reihe, 13. Band): Die Inschriften des Landkreises Böblingen — Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.57659#0151
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NP13: Die hl. Anna Selbdritt.
SANCTA • ANNA
Pultwangenrelief der Nordseite (NPW7): Kappenherr.
Durch die Rekonstruktion von Roman Janssen ist geklärt, daß die beiden Gestühlsblöcke heute ver-
tauscht sind. Der südliche Block hatte ursprünglich seinen Platz an der ranghöheren Evangelienseite,
an der Nordseite des Chores. Denn die durch Christus angeführte Folge der Apostel und Propheten
begann — vom Hochaltar ausgehend — folgerichtig mit dem ersten Sitz, dem herausgehobenen Platz des
Propstes unterhalb der Halbfigur Christi. Wenn der nördliche Gestühlsblock ebenfalls gedreht und an
der Südseite stehend gedacht wird, enden die Inschriften mit der Meisterinschrift, die ja außerhalb des
theologischen Programms steht33.
Die Frage, wie es zu der heutigen Aufstellung kommen konnte, ist durch die historischen Fakten leicht
zu beantworten. Laut Signatur wurde das Gestühl im Jahr 1517 am 22. Juni „usgemacht“, d. h. aufge-
stellt; damit war der Werkvertrag erfüllt, nach dem dem Schreiner Heinrich Schickhardt 84 Pfund 18
Schillinge 4 Heller ausbezahlt wurden; zusätzlich erhielt er 10 Gulden (14 Pfund) zum Geschenk, da die
Ausführung offenbar zur Zufriedenheit von „Vogt und Gericht“ ausgefallen war34.15 37 wurde das Ge-
stühl im Gefolge des Bildersturms entfernt, d. h. auseinandergenommen und in der Turmhalle zusam-
men mit den Hochaltartafeln magaziniert. Zur Zeit des Interims 1548 mußte das Chorgestühl wieder
an seinem Platz im Chor aufgestellt werden; offenbar ist der Wiederaufbau damals in großer Eile ohne
Kenntnis des originalen Zustands vorgenommen worden. Anschließend wurde das Gestühl dort belas-
sen, da sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts im lutherischen Württemberg die Bilderfeindlichkeit
gelegt hatte. Spätere Eingriffe waren ein Anstrich mit weißer Farbe im Jahr 1817 und die Neuordnung
nur der Pulte, die im Zuge einer Restaurierung von 1890 —1892 vorgenommen wurdeR
Zur Meisterfrage gilt durch die Signatur N14B als gesichert, daß Heinrich Schickhardt von Siegen als
Schreiner und Unternehmer das Gestühl gebaut hat. Für die Ausführung der Reliefs am Dorsale und
für die Pultreliefs wurden zwei verschiedene Bildhauer vermutet. Die Zuschreibung figürlicher Teile
an den Bildhauer Christoph von Urach wird neuerdings als nicht mehr überzeugend abgelehnt36.
Dabei wurde der epigraphische Befund der Inschriften m. W bis heute kaum in die Überlegungen
einbezogen, obgleich Christoph sich auf den für ihn gesicherten Werken durch die Verwendung von
hervorragend gestalteten Inschriften auszeichnet. Ohne daß in diesem Rahmen eine vergleichende
Untersuchung möglich ist, sei erwähnt, daß der 1518 datierte und signierte Taufstein37 der St. Aman-
duskirche in Urach auf mehreren Schriftbändern eine Humanistische Minuskel verwendet, die den
Inschriften in den Büchern der vier Kirchenväter am Herrenberger Chorgestühl ähnlich ist. Da in
beiden Fällen die Auftraggeber die Brüder vom Gemeinsamen Leben waren, ist eine Beteiligung des
Christoph von Urach als Bildhauer nicht von der Hand zu weisen, obgleich die Doppeltätigkeit des
Bildhauers in Holz und Stern neue Fragen aufwirft, nämlich die Frage der Zulässigkeit solcher Tätig-
keit im Rahmen der für die Zünfte geltenden Vorschriften.
Festzuhalten ist, daß Heinrich Schickhardt von Siegen zwischen 1503 und 1540 als Schreiner in Her-
renberg urkundlich nachweisbar ist38. Er war verheiratet mit Margaretha Homelin von Herrenberg
und ist der Stammvater der namhaften Familie, aus der auch der Architekt Heinrich Schickhardt ’6 als
Enkel des Schreiners hervorging. Den Auftrag für das Gestühl erhielt Schickhardt zur Amtszeit des
zweiten Propstes der Kappenherren, wie die Gebrüder vom Gemeinsamen Leben genannt wurden.
Dieser Johannes Rebmann starb am 10. Juli 1517 und hat die Aufstellung des Gestühls somit noch
erlebt. Sicher ist, daß die Theologie der Brüder für die Ikonographie der Chorausstattung — d. h. von
Gestühl und Hochaltar - grundlegend war. Die Umsetzung des komplizierten Programms stieß gele-
gentlich bei den lateinischen Texten auf Schwierigkeiten, wie Schnitzfehler ahnen lassen. Da diese sich
besonders an den Pultreliefs häufen, ergibt sich auch daraus ein Hinweis auf die Beteiligung verschie-
dener Hände. Diese Fehler sind den ausführenden, des Lateins wohl unkundigen Handwerkern und
sicher nicht der auftraggebenden Theologengruppe anzulasten.
Die Verbindung der zwölf Apostel mit den Artikeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses war
allgemein üblich, da diese als die Autoren des Credo galten. Ebenso verbreitet war es, den Aposteln
als den Sendboten des in Christus geoffenbarten Heils Propheten mit entsprechenden Weissagungen
zuzuordnen, um das typologische Verhältnis von Altem und Neuem Testament herauszustellen4". Für
zyklische Darstellungen dieser Art war die Gattung des Chorgestühls besonders beliebt, wie die zahl-
reichen erhaltenen Beispiele in Südwestdeutschland und der Schweiz zeigen41. Eine Besonderheit des
Herrenberger Gestühls ist die geschlossene Vorderwand der Pulte, die über das Dorsale hinaus Platz
für weitere zyklische Relief-Darstellungen — wie die der Kirchenväter, der vier Evangelisten, der
Gruppe der sechs weiblichen Heiligen etc. — bot, obgleich die Anzahl der 25 Sitze im Vergleich mit

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