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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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Sitzungen

Rolle bewegen, auch ihre Ausbildung und ihre Aufgaben, ihre Einstellung zu diesen
Aufgaben, ihre Erfolgs- und Mißerfolgserlebnisse. Das wichtigste Motiv zur Über-
nahme der Katechistenrolle ist in den meisten Fällen ein klares Bildungsinteresse (lesen
und schreiben lernen, Gitarre spielen lernen usw.). Die Ausbildung wird oft mit sehr
viel Motivation begonnen. In der Praxis aber macht sich dann in den allermeisten Fäl-
len eine tiefe Frustration breit, die vor allem durch die mangelnde finanzielle Unter-
stützung der Kirche bedingt ist und durch die meist äußerst dürftige Akzeptanz im
Dorf.
Wenn dennoch viele indianische Katechisten bei der Aufgabe bleiben, so ist deut-
lich, daß es vor allem der Statusgewinn ist, welcher sie motiviert, die Hoffnung auf
Hilfe durch die Nähe zur mächtigen Kirche und - die Strafangst, eine Strafangst, die
präzise nach dem Muster der göttlichen Strafe der andinen Religion konstruiert wird.
Diese Strafangst ist es auch, welche alle Katechisten zur Rückkehr zur andinen reli-
giösen Praxis führt. Ein zentraler Begriff der andinen Religion ist Opferschuld. Opfer-
schuld ist nicht schuldig SEIN, sondern Schulden HABEN, den Göttern Opfer schulden,
was durch Gaben auszugleichen ist. Wenn Opferschuld nicht ausgeglichen wird,
schicken die andinen Götter Unheil als Strafe. Jedes Unheil, welches einem Katechi-
sten begegnet, wird in diesem Kontext interpretiert - und führt so zwangsläufig zur
andinen Praxis zurück: „Meine Opferstätte“, so heißt es z. B., „ist hungrig, weil ich
nicht mehr geopfert habe, sie schickte meinem Kind den Tod - ich muß wieder
opfern.“ Es ist die Logik der Opferschuld - zutiefst eingebettet in den andinen Wert
der Reziprozität -, welche nachweislich dazu führt, daß die von den Katechisten vor-
übergehend eingestellte andin-religiöse Praxis wieder aufgenommen wird.
Damit aber geraten sie in den Widerspruch der Religionen. Wie lösen sie ihn auf?
Dieser Frage habe ich mich in vielen Gesprächen behutsam anzunähern versucht und
ich habe eine Fülle von Strategien gefunden, welche den Katechisten ein konfliktfreies
Verweilen in beiden Religionen ermöglichen. Solche Strategien - vielfältig mit den
Aussagen der Katechisten zu belegen - sind: die Bezugsrahmenverschiebung, die
andin-christliche Arbeitsteilung oder Zuständigkeitsspaltung, die „Zauberformel der
General-Lizenz“ sowie allerlei Umwege und Verschlüsselungen als Strategien heidni-
scher Camouflage. Das Ergebnis ist letztlich eine Praxis, welche am prägnantesten an
dem Phänomen des „Vaterunsers im Rückwärtsgang“ zu illustrieren ist:
Alle Indianer beten das Vaterunser, insbesondere aber die „Priester“ der andinen
Religion, die andinen Ritualisten und Medizinmänner. Nicht wenige der Katechisten
sind selbst auch Medizinmänner und Ritualisten. Eine genaue Analyse des Ortes sowie
des Stellenwertes sowie der Ersetzbarkeit des Vaterunsers zeigt nun aber, daß dieses
gewiß nicht nach Inhalt gebetet wird - sondern als eine magische Formel der Kraftauf-
wertung verwendet wird, wie es auch viele andere in der andin-religiösen rituellen
Praxis gibt. Einer der klarsten Belege dafür, daß das Vaterunser anderen andinen magi-
schen Formeln der Kraftaufwertung voll äquivalent ist, stellt folgende Ritualpraxis
dar: Das Vaterunser wird auch über schwarzen Opfergaben gesprochen - über „hexe-
rischen“ Opferbereitungen der Schwarzen Heilungen, deren Ziel die Entmachtung
oder gar Vernichtung des Feindes ist. Gemäß den esoterischen Lehren der andinen
Ritualisten ist das Vaterunser - ebenso wie auch alle anderen schwarzen rituellen
Gesten und Ingredienzen mit einem schwarzen Index, dem der „Umkehr“, zu ver-
sehen. Folglich ist das Vaterunser rückwärts zu beten. Aber oft reicht es auch, das
Vaterunser in seiner ohnehin meist äußerst verkrüppelten Form mit Kreuzeszeichen
 
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