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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2001 — 2002

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2001
DOI Kapitel:
Gesamtsitzung am 16. Juni 2001
DOI Artikel:
Sellin, Volker: Antrittsrede vom 16. Juni 2001
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https://doi.org/10.11588/diglit.66350#0071
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Sitzungen

Eberhard Jäckel, um seiner Fakultät an der Universität Stuttgart 1977 vorzuschlagen,
mich auf die neugeschaffene Professur für Geschichte der frühen Neuzeit zu berufen.
Drei Jahre später erfolgte der Ruf nach Heidelberg auf den Lehrstuhl von Werner
Conze. Mit diesem Lehrstuhl ist nicht nur die Mitwirkung an der Leitung des Histo-
rischen Seminars, sondern auch die Leitung der Abteilung Sozialgeschichte des Insti-
tuts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verbunden. In den ersten Heidelberger Jah-
ren hat mich besonders die Mentalitätsgeschichte beschäftigt, ein vor allem von den
Historikern der französischen AwWes-Gruppe gepflegter Bereich der Sozialgeschich-
te, mit dem sich bis dahin nur wenige deutsche Historiker befaßt hatten. Ausgehend
von der Überzeugung, daß sich Mentalitäten als eine historisch wandelbare Form der
Weltorientierung, als gesellschaftlich vermitteltes Handlungswissen verstehen lassen,
das vor allem in der Sprache seinen Niederschlag findet, suchte mein damaliges Plä-
doyer für diesen Forschungsansatz die Begriffsgeschichte oder, allgemeiner ausge-
drückt, die historische Semantik für die Analyse von Mentalitäten fruchtbar zu
machen.
Die Jahre von 1987 bis 1991 waren durch das Heidelberger Rektorat bestimmt. Im
Rückblick scheint mir der Nutzen dieser Erfahrung für meine Auseinandersetzung mit
der Geschichte vor allem darin zu liegen, daß mir das Amt Gelegenheit gab, mich für eine
begrenzte Frist gewissermaßen auf die Gegenstandsseite der historischen Wissenschaft
zu begeben und in der praktischen Arbeit selbst zu erfahren, unter welchen Bedingun-
gen diejenigen handeln, über die ich bisher nur geurteilt hatte. Natürlich spielt sich die
große Politik in anderen Dimensionen ab als die Leitung einer Universität, und doch
habe ich einen konkreteren Begriff davon bekommen, unter welchen Zwängen Ent-
scheidungen Zustandekommen und was im Vollzug praktischer Tätigkeit dazugehört,
eine Situation richtig einzuschätzen und gebotene Handlungsspielräume zu nutzen.
In den letzten Jahren habe ich mich wieder stärker dem 19. Jahrhundert zugewandt.
Zeitlich lag der Schwerpunkt auf der Restaurationszeit. In einer Monographie über
den Regimewechsel in Frankreich im Frühjahr 1814, die im März erschienen ist, habe
ich versucht, aus den Umständen der Restauration Ludwigs XVIII. auf dem französi-
schen Thron im Jahre 1814 einen europäischen Restaurationsbegriff zu entwickeln.
Mit Frankreich verbindet mich auch eine Vorliebe, die sich zuerst aus meiner Beschäf-
tigung mit dem deutschen Partikularismus und mit dem Heidelberger Schloß ent-
wickelt hat: das Interesse für die politische Instrumentalisierung von Kunstwerken
und Denkmälern. Ihren Niederschlag hat dieses Interesse unter anderem in einem
Aufsatz über die Exekution des Kaisers Maximilian von Mexiko von Edouard Manet
und in einer erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtlichen Studie über die Vendöme-
Säule in Paris gefunden.
An frühere Arbeiten zur Universitätsgeschichte anknüpfend, bereite ich gegenwär-
tig zusammen mit Wolfgang Eckart und Eike Wolgast und einer großen Zahl von wei-
teren Autoren eine Geschichte der Ruperto-Carola unter dem Nationalsozialismus
vor. Im übrigen arbeite ich an einer vergleichenden Analyse der Herrscherabsetzungen
in der Neuzeit, von der Lossagung der Niederländer von Philipp II. im Jahre 1581 bis
zum Sturz der Monarchie in Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland am Ende
des Ersten Weltkriegs.
Die Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften betrachte ich als
eine Chance, im Gespräch über Fächergrenzen hinweg Anstöße zu empfangen und die
eigenen Vorstellungen zu überprüfen. Für diese Möglichkeiten bin ich dankbar.
 
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