30. Juni 2001
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erworben) sind für fast alle zur Selbstbeobachtung fähigen Menschen eine unbezwei-
felte Realität. Dies gilt besonders, nachdem die Heimat in einer früheren Lebensphase
verlassen wurde, bei deren Wiedersehen in einer späteren Zeit. Dann kann auch der
intensive Wunsch entstehen, auf Dauer in die Heimat zurückzukehren. Ob darauf der
tatsächliche Rückkehr-Entschluß folgt, ergibt sich gewöhnlich aus einer gedanklichen
Kalkulation, nämlich dem Vergleich zwischen den gegenwärtigen und den in der
Heimat zu erwartenden Lebens- und Arbeitsbedingungen. In der Regel setzt sich der
intellektuell entstandene Impuls durch; doch können sich unter Umständen auch die
emotional getragenen Tendenzen der Heimatbindung als verhaltensbestimmend
erweisen: Wenn sich - beispielsweise für die Auswahl oder die Ausgestaltung des Ziel-
ortes nach erzwungener Umsiedlung - ein Freiheitsspielraum ergibt; dann folgt die
Entscheidung vielfach den emotionalen Komponenten der durch (Kindheits-)£r/^A-
rung entstandenen Heimatbindung.
Aus diesen aus vielseitigem historischem und biographischem Material hergeleite-
ten Aussagen wird deutlich: Es besteht keine Gesetzlichkeit derart, daß sich Impulse
des rein erfahrungsabhängigen Niveaus stets gegen intellektuell gewonnene und
gestaltete Impulse durchsetzen würden - oder umgekehrt. Je nach den Umständen -
der relativen Stärke und damit Durchsetzungsfähigkeit der Impulse - ist beides mög-
lich.
Beispiel II: Angst kann Denken blockieren. Biologische Vorbemerkung: Bei Säuge-
tieren (und einigen Vögeln) tritt zu den in der Einleitung genannten drei Niveaus der
Triebfedern der Verhaltenssteuerung ein weiteres: Das Niveau der angeborenen Stra-
tegien des Erfahrungserwerbs. Hierher gehören das Erkunden aus eigenem („intrinsi-
schem“) Antrieb, das Spielen und spielerische Nachahmen. Dieser Verhaltensbereich
bildet vielfach sogar den Schwerpunkt einer ganzen Lebensphase: Das „Spielalter“
folgt der vollständigen Abhängigkeit (vor allem der Nesthocker-Jungen) vor der
schließlichen Selbständigkeit. Merkwürdig ist dabei die besondere Hemmbarkeit aller
hierher gehörigen Verhaltensweisen, insbesondere durch Angst. Biologisch ist dies fol-
gendermaßen zu verstehen: Angst bzw. Fluchttendenz hat jeweils aktuelle Bedeutung
für die Lebenserhaltung, während die rein dem Erfahrungserwerb gewidmeten Ver-
haltensweisen - auch wenn sie biologisch ebenso „wichtig“ sind - lediglich Zukunfts-
bedeutung für das Lebewesen haben und daher ohne Nachteil auf angstfreie, also
ungefährliche Zeiträume verschoben werden können. Darin liegt der biologische Sinn
für den Vorrang der Angst in der jeweils biologisch aktuellen Entscheidungssituation.
In Gefahrensituationen werden beim Menschen die Funktionen der Flucht
und Gegenwehr physiologisch gestärkt, vor allem vermittelt durch die Adrenalin-
Ausschüttung. Merkwürdigerweise aber wird eine gerade für ihn wichtige Teilfunk-
tion der Gefahren-Bewältigung nicht gestärkt, sondern geschwächt, ja unterdrückt:
Das problemlösende Nachdenken. Akademische Lehrer kennen dies bei einzelnen
ihrer Studenten als Blockierung des Aufrufens von Gedächtnisinhalten und des Nach-
denkens als Folge von „Prüfungsangst“. Hier setzen sich Impulse aus der unmittelbar
emotionalen Ebene gegen solche aus dem intellektuellen Niveau durch.
Bei diesem biologisch bemerkenswerten Phänomen liegt es nahe, nach der evolu-
tionären Wurzel zu fragen. Diese könnte m folgendem liegen: Wie es scheint, sind ent-
scheidende funktionelle Anteile der Steuerung des problemlösenden Nachdenkens in
der Evolution des Menschen nicht ganz neu entstanden, sondern aus der Steuerung des
Erkundungs- und Spielverhaltens übernommen worden. Dabei hat sich - wie wir
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erworben) sind für fast alle zur Selbstbeobachtung fähigen Menschen eine unbezwei-
felte Realität. Dies gilt besonders, nachdem die Heimat in einer früheren Lebensphase
verlassen wurde, bei deren Wiedersehen in einer späteren Zeit. Dann kann auch der
intensive Wunsch entstehen, auf Dauer in die Heimat zurückzukehren. Ob darauf der
tatsächliche Rückkehr-Entschluß folgt, ergibt sich gewöhnlich aus einer gedanklichen
Kalkulation, nämlich dem Vergleich zwischen den gegenwärtigen und den in der
Heimat zu erwartenden Lebens- und Arbeitsbedingungen. In der Regel setzt sich der
intellektuell entstandene Impuls durch; doch können sich unter Umständen auch die
emotional getragenen Tendenzen der Heimatbindung als verhaltensbestimmend
erweisen: Wenn sich - beispielsweise für die Auswahl oder die Ausgestaltung des Ziel-
ortes nach erzwungener Umsiedlung - ein Freiheitsspielraum ergibt; dann folgt die
Entscheidung vielfach den emotionalen Komponenten der durch (Kindheits-)£r/^A-
rung entstandenen Heimatbindung.
Aus diesen aus vielseitigem historischem und biographischem Material hergeleite-
ten Aussagen wird deutlich: Es besteht keine Gesetzlichkeit derart, daß sich Impulse
des rein erfahrungsabhängigen Niveaus stets gegen intellektuell gewonnene und
gestaltete Impulse durchsetzen würden - oder umgekehrt. Je nach den Umständen -
der relativen Stärke und damit Durchsetzungsfähigkeit der Impulse - ist beides mög-
lich.
Beispiel II: Angst kann Denken blockieren. Biologische Vorbemerkung: Bei Säuge-
tieren (und einigen Vögeln) tritt zu den in der Einleitung genannten drei Niveaus der
Triebfedern der Verhaltenssteuerung ein weiteres: Das Niveau der angeborenen Stra-
tegien des Erfahrungserwerbs. Hierher gehören das Erkunden aus eigenem („intrinsi-
schem“) Antrieb, das Spielen und spielerische Nachahmen. Dieser Verhaltensbereich
bildet vielfach sogar den Schwerpunkt einer ganzen Lebensphase: Das „Spielalter“
folgt der vollständigen Abhängigkeit (vor allem der Nesthocker-Jungen) vor der
schließlichen Selbständigkeit. Merkwürdig ist dabei die besondere Hemmbarkeit aller
hierher gehörigen Verhaltensweisen, insbesondere durch Angst. Biologisch ist dies fol-
gendermaßen zu verstehen: Angst bzw. Fluchttendenz hat jeweils aktuelle Bedeutung
für die Lebenserhaltung, während die rein dem Erfahrungserwerb gewidmeten Ver-
haltensweisen - auch wenn sie biologisch ebenso „wichtig“ sind - lediglich Zukunfts-
bedeutung für das Lebewesen haben und daher ohne Nachteil auf angstfreie, also
ungefährliche Zeiträume verschoben werden können. Darin liegt der biologische Sinn
für den Vorrang der Angst in der jeweils biologisch aktuellen Entscheidungssituation.
In Gefahrensituationen werden beim Menschen die Funktionen der Flucht
und Gegenwehr physiologisch gestärkt, vor allem vermittelt durch die Adrenalin-
Ausschüttung. Merkwürdigerweise aber wird eine gerade für ihn wichtige Teilfunk-
tion der Gefahren-Bewältigung nicht gestärkt, sondern geschwächt, ja unterdrückt:
Das problemlösende Nachdenken. Akademische Lehrer kennen dies bei einzelnen
ihrer Studenten als Blockierung des Aufrufens von Gedächtnisinhalten und des Nach-
denkens als Folge von „Prüfungsangst“. Hier setzen sich Impulse aus der unmittelbar
emotionalen Ebene gegen solche aus dem intellektuellen Niveau durch.
Bei diesem biologisch bemerkenswerten Phänomen liegt es nahe, nach der evolu-
tionären Wurzel zu fragen. Diese könnte m folgendem liegen: Wie es scheint, sind ent-
scheidende funktionelle Anteile der Steuerung des problemlösenden Nachdenkens in
der Evolution des Menschen nicht ganz neu entstanden, sondern aus der Steuerung des
Erkundungs- und Spielverhaltens übernommen worden. Dabei hat sich - wie wir