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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Antrittsreden
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Bühler, Wolfgang: Antrittsrede vom 12. Juli 2003
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0130
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ANTRITTSREDEN

Antrittsrede von Herrn WOLFGANG Bühler
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 12. Juli 2003.

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Herren Sekretäre,
meine sehr verehrten Kolleginnen,
sehr geehrte Kollegen,
meiner Entscheidung, ein Studium der Mathematik an
der damaligen Technischen Hochschule Stuttgart auf-
zunehmen, lag eine gehörige Portion Faulheit zu
Grunde. Entweder, so meine Phantasie, man versteht
die komplexe Struktur dieser Disziplin, dann wird es
em bequemes Studium sein, bei dem einem die genia-
len Einfälle in der Badewanne und nicht in trostlosen
Bibliotheken zufliegen, oder, man versteht sie nicht, dann kann man sich immer
noch in guter schwäbischer Tradition mit einem arbeitsamen Studium auseinander-
setzen. Eine charmante Fehleinschätzung der Situation, die nur dadurch gemildert
wurde, dass sie nicht die einzige blieb. Doch beginnen wir von vorne.
1943 geboren im behäbigen Schwäbisch Hall als Sohn eines mit calvimstischer
Arbeitsfreude und Zielstrebigkeit gesegneten Vaters und einer feinsinnigen, pieti-
stisch geprägten Mutter, wuchs ich in einem familiären Umfeld auf, das mit seiner
Ambivalenz imWürttembergischen nicht ungewöhnlich ist. Auf diese Ambivalenz in
den Erziehungszielen reagieren manche der Adressaten mit literarischen Meisterlei-
stungen, andere versuchen sie, wie in der 68er Zeit, durch einen Anschluss an revo-
lutionäre Zellen zu kanalisieren. Bei mir führte sie zu einer ständigen Suche nach
dem Neuen bei dem gleichzeitigen Wunsch, das Alte zu bewahren.
Jeder Übergang in eine neue Lebensphase war mir ein Gräuel. Bereits drei Tage
nach der Einschulung in Ulm schien mir der Erkenntnisgewinn ausreichend, und ich
weigerte mich, jemals wieder diese Schule zu betreten. Meine Mutter wusste sich
nicht anders zu helfen, als mich mit roher Gewalt, auf dem Gepäckträger ihres Rades
festgezurrt, hinzuschaffen.
Das Gymnasium absolvierte ich nach der Devise, wenn ich schon da sitze, kann
ich auch zuhören. So stieß das meiste des dort Vorgetragenen auf meine offenen
Ohren, vieles hat sich unauslöschlich eingeprägt. Nur im Deutschunterricht fühlte
ich mich als Jüngster in der Klasse ständig überfordert. Die als dramatisch herausge-
stellten Probleme der dort behandelten Akteure schienen mir obsolet gemessen an
meinem sehr viel dramatischeren Problem, das hübscheste Mädchen der Klasse auf
mich aufmerksam zu machen. Irgendwie ist es dann doch gelungen. Sie ist seit 35
Jahren meine Frau, und wir sind die stolzen Eltern zweier Kinder.
Mein Studienfach hatte ich schon angedeutet. Das Mathematikstudium galt
Anfang der 60er als eine brotlose Kunst. Wir mussten deshalb, um etwas Anständiges
zu lernen, vier Semester Technische Mechanik mit den Maschinenbauern, drei
 
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