16. Juli 2005
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Willen zu übertragen: In der Deklination eines Seelenatoms übe ich einen freien
Willensakt aus, ohne daß eine Übertragung oder eine Verursachung von dem Atom
zu ‘mir’ oder von ‘mir’ nötig oder auch nur möglich wäre. Jenes Atom ist als Atom
meiner Seele mein Atom, so daß Ich in ihm Ich bin.
Der neueren Forschung, die Seele/Willen und Atomabweichung kategorial
scheidet und ihre Verbindung leugnet, weil sie den Willen zur Folge eines Zufalls
mache, ist entgegenzuhalten: Der Willensakt wird nicht von der Atomabweichung
verursacht, sondern er ist diese. Die Atomabweichung ist nicht zufällig, sondern em
Spontaneitätsprinzip. Freier Wille ist Spontaneität der Seelenatome, daher der Seele,
daher des Willenssubjekts. Nimmt man Atomismus ernst, ist die Beziehung zwischen
atomaren Vorgängen und ihrer phänomenalen Entsprechung in atomaren Zusam-
mensetzungen (wie dem Menschen) nicht als Reaktion oder Sichbedienen (die
Seele reagiert auf em clinamen, der Wille bedient sich seiner) zu denken, sondern als
Identität im Sinn zweier Aspekte ein und desselben Sachverhalts.
Der Gewinn der Hypothese besteht dann, daß Seele und Ich der Materie nicht
als kategorial andere Instanz gegenüberstehen, weil auch die Atome selbst Leben und
Verlangen haben. Der epikureische Atomismus ist nicht rem mechanisch; im Baustoff
der Welt sind Materie und Geist verbunden. Die Leugnung möglicher Verbindung
von Atomismus und Willensfreiheit ist neuzeitlicher Materievorstellung verpflichtet.
Die demVortrag zugrundeliegende Abhandlung soll unter dem Titel „Clina-
men. Eine Studie zum dynamischen Atomismus der Antike“ in den Schriften der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften publiziert werden.
Herr Hans Günter Dosch hält einen Vortrag: „Spontaneität in der Atomphysik des
20. Jahrhunderts“.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte man erfolgreich, mit Hilfe der „kine-
tischen Gastheorie” die wesentlichen Eigenschaften der Gase aus der Annahme her-
zuleiten, dass sich die kleinsten Teilchen (Atome, Moleküle) sehr schnell in alle
Richtungen bewegen und nur durch elastische Stöße wechselwirken. Dieses Bild
entspricht viel mehr den Vorstellungen des Leukipp und des Demokrit als denen des
Epikur und des Lucretius, wie schon Le Sage, einer der Urgroßväter der kinetischen
Gastheorie im 18. Jahrhundert, bemerkte. Dennoch nimmt J. Clerk Maxwell,
mit Boltzmann und Gibbs einer der Väter der Theorie, an mehreren Stellen aus-
drücklich Bezug auf Lucretius. Maxwell sieht zwar keinen direkten Zusammenhang
der antiken mit der modernen Physik — er betont ausdrücklich, dass Lucretius in
Übereinklang mit den physikalischen Ideen seiner Zeit interpretiert werden müsse,
doch er benutzt die epikureisch-lucretische Idee der minimalen spontanen Ab-
weichung in der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Materialismus
eines J. Tyndall.
Wegen der Komplexität der Systeme, jedes von vielen Milliarden von
Molekülen erleidet pro Sekunde viele Millionen von Stößen, erkannte Maxwell, dass
nur statistische Methoden in der Theorie zu quantitativ nachprüfbaren Ergebnissen
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Willen zu übertragen: In der Deklination eines Seelenatoms übe ich einen freien
Willensakt aus, ohne daß eine Übertragung oder eine Verursachung von dem Atom
zu ‘mir’ oder von ‘mir’ nötig oder auch nur möglich wäre. Jenes Atom ist als Atom
meiner Seele mein Atom, so daß Ich in ihm Ich bin.
Der neueren Forschung, die Seele/Willen und Atomabweichung kategorial
scheidet und ihre Verbindung leugnet, weil sie den Willen zur Folge eines Zufalls
mache, ist entgegenzuhalten: Der Willensakt wird nicht von der Atomabweichung
verursacht, sondern er ist diese. Die Atomabweichung ist nicht zufällig, sondern em
Spontaneitätsprinzip. Freier Wille ist Spontaneität der Seelenatome, daher der Seele,
daher des Willenssubjekts. Nimmt man Atomismus ernst, ist die Beziehung zwischen
atomaren Vorgängen und ihrer phänomenalen Entsprechung in atomaren Zusam-
mensetzungen (wie dem Menschen) nicht als Reaktion oder Sichbedienen (die
Seele reagiert auf em clinamen, der Wille bedient sich seiner) zu denken, sondern als
Identität im Sinn zweier Aspekte ein und desselben Sachverhalts.
Der Gewinn der Hypothese besteht dann, daß Seele und Ich der Materie nicht
als kategorial andere Instanz gegenüberstehen, weil auch die Atome selbst Leben und
Verlangen haben. Der epikureische Atomismus ist nicht rem mechanisch; im Baustoff
der Welt sind Materie und Geist verbunden. Die Leugnung möglicher Verbindung
von Atomismus und Willensfreiheit ist neuzeitlicher Materievorstellung verpflichtet.
Die demVortrag zugrundeliegende Abhandlung soll unter dem Titel „Clina-
men. Eine Studie zum dynamischen Atomismus der Antike“ in den Schriften der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften publiziert werden.
Herr Hans Günter Dosch hält einen Vortrag: „Spontaneität in der Atomphysik des
20. Jahrhunderts“.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte man erfolgreich, mit Hilfe der „kine-
tischen Gastheorie” die wesentlichen Eigenschaften der Gase aus der Annahme her-
zuleiten, dass sich die kleinsten Teilchen (Atome, Moleküle) sehr schnell in alle
Richtungen bewegen und nur durch elastische Stöße wechselwirken. Dieses Bild
entspricht viel mehr den Vorstellungen des Leukipp und des Demokrit als denen des
Epikur und des Lucretius, wie schon Le Sage, einer der Urgroßväter der kinetischen
Gastheorie im 18. Jahrhundert, bemerkte. Dennoch nimmt J. Clerk Maxwell,
mit Boltzmann und Gibbs einer der Väter der Theorie, an mehreren Stellen aus-
drücklich Bezug auf Lucretius. Maxwell sieht zwar keinen direkten Zusammenhang
der antiken mit der modernen Physik — er betont ausdrücklich, dass Lucretius in
Übereinklang mit den physikalischen Ideen seiner Zeit interpretiert werden müsse,
doch er benutzt die epikureisch-lucretische Idee der minimalen spontanen Ab-
weichung in der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Materialismus
eines J. Tyndall.
Wegen der Komplexität der Systeme, jedes von vielen Milliarden von
Molekülen erleidet pro Sekunde viele Millionen von Stößen, erkannte Maxwell, dass
nur statistische Methoden in der Theorie zu quantitativ nachprüfbaren Ergebnissen