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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 26. November 2005
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Schmidt, Jochen: Goethes Altersgedicht Unworte. Orphisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0089
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102 | SITZUNGEN

berühmten Stanzen im aktuellen Kontext der Romantik, mit der er sich gerade in
dieser Zeit intensiv auseinandersetzte. Gegen die romantische Tendenz zur Entgren-
zung und gegen das entindividualisierende Aufgehen im Unendlichen, das die
Romantiker als Fascinosum darstellten, betont die Eröffnungs-Stanze die unaufheb-
bare Gesetzlichkeit des individuellen Wesens und die „geprägte Form“. Antiroman-
tisch besetzt ist auch die Mittelstrophe über den Eros. Zur Romantik gehört das
Überschreiten der Grenzen des Individuellen zum Universellen, vom Endlichen
zum Unendlichen, vom Besonderen zum Allgemeinen. Weil Eros die Grenzen indi-
viduellen Daseins überwindet, kann er zu einem Medium romantischer Entkontu-
rierung, zu einer Gefahr des Verschwebens und Verfließens werden. In Goethes
Erläuterung zur Eros-Stanze heißt es, es bestehe die Gefahr, „daß das, was auf das
Besonderste angelegt schien, ins Allgemeine verschwebt und zerfließt“. Gerade die-
ses Verschweben und Zerfließen erscheint Goethe als spezifisch romantische Auf-
lösungstendenz, die er als problematisch betrachtet. Deshalb läßt er die Eros-Strophe
mit folgenden Versen enden: „Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, /
Doch widmet sich das edelste dem Einen“.
Die Gesamtkonzeption der ‘Urworte. Orphisch’ zielt jedoch nicht auf eine
kategorische Distanzierung von romantischen Entgrenzungstendenzen, vielmehr
integriert sie diese Entgrenzungstendenzen in ein dialektisches Schema, das die ein-
zelnen Stanzen übergreift: Sowohl in den beiden Anfangs-Abschnitten wie in den
beiden Schlußabschnitten konfrontiert Goethe die schicksalhafte Bestimmung, die
jedem Wesen „Gesetz“ und „Grenze“ gibt, mit einer Tendenz, das Gesetz zu durch-
brechen und die Grenze zu überschreiten. Exakt pointierend gestaltet er dieses Ent-
sprechungsverhältnis durch, so daß eine zyklische Komposition die Mitte des Ge-
dichts, die Eros-Strophe, umkreist. Allerdings repetieren die beiden letzten Strophen
nicht einfach die Konzeption und die Konstellation der beiden ersten. Sie führen sie
auch fort und überbieten sie. Das Gedicht ist zyklisch und zugleich prozessual.
Die prozessual-lebensgeschichtliche Ordnung des Gedichts läßt sich Stufe um
Stufe verfolgen. In der 1. Strophe ist der Daimon als angeborenes Wesensgesetz der
Inbegriff der Individualität und ihrer organisierenden Kraft, zugleich aber handelt
es sich nicht etwa um die Vorstellung eines freien, sich selbst bestimmenden Indivi-
duums, vielmehr um die eines von Anfang an schon festgeprägten Wesens, das seine
schicksalhaft vorgegebene Prägung nur noch zu entfalten vermag. Modern gespro-
chen, folgt es seinem genetischen Code. So ergibt sich keineswegs em einseitig posi-
tiver Individualitätsbegriff, sondern ein ambivalenter. Einerseits bewahrt das Indivi-
duum als „geprägte Form“ seine Integrität, andererseits findet es sich in den Gren-
zen dieser „Form“ fixiert und muß sich deshalb als ein begrenztes Wesen erfahren.
Die zweite Strophe benennt mit Tyche eine Instanz, die diese angeborene
Fixierung und Begrenztheit des Menschen relativiert. Goethe löst Tyche aus dem
Status der bloßen Kontingenz, indem er sie zur menschlichen Umgebung, zum
sozialen Milieu des Menschen macht. Die schon zitierten Schlußverse der Eros-
Strophe „Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, / Doch widmet sich das
edelste dem Einen“ meinen mit dem ausdrucksvoll in der Endstellung exponierten
„Einen“ nicht nur die feste Bindung; sie pointieren auch das damit erneut gesicherte
 
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