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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses: Das WIN-Kolleg
DOI Kapitel:
2. Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Grundlagen der Europäischen Einigung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0262
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Das WIN-Kolleg | 275

Insofern, so lautet die - innerhalb des ersten Teilprojektes (Stefan Seit) - inzwi-
schen bestätigte These, erweist sich die hochscholastische professionalisierte Univer-
sitätswissenschaft als die Kehrseite nicht einer Erweiterung der menschlichen Erkennt-
nismöglichkeiten, sondern ihrer Einschränkung im Sinn einer Akzentuierung der
Transzendenz Gottes, dessen Einheit und Einfachheit einer weitgehend auf die Dis-
kursivität beschränkten menschlichen Erkenntnis unzugänglich bleiben muß.
Gleichzeitig wird so eine innerweltliche Erkenntnissphäre eröffnet, deren Inhalte
zwar als Objekte, nicht mehr aber unter dem Aspekt ihrer Zeichenfunktion in den
Blick genommen werden, die sich aus ihrer similitudo Dei ergäbe. Die Logik bzw.
Dialektik fungiert dabei als die strikte Methode des geregelten wissenschaftlichen
Erkennens, das sich direkt auf die korrespondierende Ordnung des Seins zurückbe-
zieht, während sie zuvor als flexibles hermeneutisches Verfahren in den Dienst der
Dechiffrierung der Zeichenhaftigkeit der Welt gestellt wurde.
Greifbar wird dieser Primat der Interpretation und die mit ihm einhergehen-
de Relativierung des Rationalen insbesondere dort, wo die Autoren des 11. und 12.
Jahrhunderts über das Problem des ‘Wunders’ nachdenken: über die Frage, ob und
wie Gott die gesetzmäßige Ordnung punktuell durchbricht, und wie der Mensch
derartige Ereignisse gleichwohl sinnvoll zu denken vermag, und zwar und nicht
lediglich in der Weise eines irrationalen Fideismus: Abweichungen von der gesetz-
mäßigen Ordnung, die ja ihrerseits nur gleichsam für die (menschliche) Vernunft und zu
ihr relativ besteht, bleiben stets möglich. Mögen sie auch unwahrscheinlich sein, fin-
den sie sich doch in der übergeordneten absolut voraussetzungs- und widerspruchs-
freien Einheit der göttlichen Vorsehung aufgehoben, der sich der Mensch verstehend
anzunähern vermag. Der rationale ordo ist Abbild der Einheit und Selbstidentität
Gottes, diese wiederum Ordnung höherer Stufe und ‘natura naturae’ in und über
jeder gesetzmäßigen Ordnung.
Naturkundliche Erkenntnis als die rationale Rekonstruktion einer innerwelt-
lichen gesetzmäßigen Ordnung ist unter solchen Prämissen zwar möglich; gemessen
an der ‘theologischen’ Deutung der Welt handelt es sich jedoch nur um eine relati-
ve Unternehmung von relativem Interesse. Auf der anderen Seite bleibt den rationa-
len Erkenntnisformen dieses relative Interesse durchaus gewährleistet, nicht nur
wegen ihrer praktischen Zielrichtung. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Kri-
terien, die die begründete Unterscheidung richtiger von überschießenden oder
sogar falschen Deutungen gestatten. Auf diese Weise kommt ein Prozeß der Nor-
mierung des Zeichengebrauchs in Gang, der schließlich in die Partikularisierung,
Ausdifferenzierung und Professionalisierung des wissenschaftlichen Wissens einmün-
det, in Entwicklungstendenzen also, die immer auch - und wieder verstärkt in der
Frühen Neuzeit — kritisiert werden, weil mit ihnen das Wissen seinen Anwendungs-
bezug einbüßt. Die Frage nach dem sozialen (Selbst-)Verständnis der professionellen
Wissenschaft ist unter diesem Aspekt bereits zur Untersuchung der Verhältnisse im
Ubergangsbereich zwischen Mittelalter und Neuzeit weitergeführt worden. Künftig
werden insbesondere Werke der politischen Theorie zur Erforschung der dialekti-
schen Spannung zwischen der gesellschaftlichen Funktionalisierung und der profes-
sionellen Eigenständigkeit der Wissenschaften herangezogen werden.
 
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