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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Jahresfeier am 20. Mai 2006
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Darstellung der Arbeiten der Preisträger
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Walter-Witzenmann-Preis
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Krüger, Christine G.: Sind wir denn nicht Brüder?: Deutsche Juden im deutsch-französischen Krieg 1870/71
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https://doi.org/10.11588/diglit.66961#0050
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62 | JAHRESFEIER

WALTER-WITZENM ANN-PREIS
Christine Krüger: „Sind wir denn nicht Brüder? Deutsche Juden im deutsch-fran-
zösischen Krieg 1870/71“
Als im Juli 1870 der deutsch-französische Krieg ausbrach, erschien dies deutschen
Juden als konsequenzenreiches Ereignis, als historischer Wendepunkt nicht nur für
die deutsche Geschichte, sondern auch für die Geschichte der jüdischen Emanzipa-
tion. Der Krieg führte die deutsche Reichseinigung herbei und die Entscheidungen
darüber, wie sich die entstehende Nation selbst definierte, bestimmten auch, welche
Stellung die Juden in dieser einnehmen sollten.
Deutsche Juden knüpften an die Einigung große Hoffnungen: Sie erwarteten,
nun endlich als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt zu werden. Das hieß vor
allem auch Zugang zu staatlichen Ämtern, Lehrstühlen und Offiziersposten zu erhal-
ten, der ihnen in den meisten deutschen Staaten bislang versperrt geblieben war. Die
in der deutschen Öffentlichkeit immer wieder beschworenen Kriegsziele — Einig-
keit, Recht und Freiheit - ließen sich nicht nur in der anti-französischen Kriegsrhe-
torik verwenden: Für Juden gewannen sie auch als jene Ziele Sinn, die sie für ihre
Stellung im neu gegründeten deutschen Kaiserreich zu erreichen hofften. Überdies
sahen sie in dem Krieg die Gelegenheit, eines der am häufigsten von Emanzipati-
onsgegnern hervorgebrachten Argumente zu entkräften: die Unterstellung, dass die
Juden auf eine Rückkehr nach Palästina warteten und Deutschland nicht als ihr
Vaterland betrachteten. Da man dieser Argumentation zufolge kein Vertrauen darauf
haben könne, dass die Juden gegebenenfalls auch mit der Waffe in der Hand für
Deutschland einstehen, dass sie also ihre Staatsbürgerpflichten erfüllen würden,
könne man ihnen auch nicht die Staatsbürgerrechte verleihen.
Mit großer Einigkeit befürworteten jüdische Publizisten die jüdische Teilnahme
am deutsch-französischen Krieg. Vielerorts taten sich Juden durch patriotische Spen-
den hervor oder in den mit dem Krieg zusammenhängenden Wohltätigkeitsaktionen.
Doch das patriotische Bekenntnis war für sie nicht völlig unproblematisch. Denn
auch in der französischen Armee kämpften Juden. Einer der führenden deutsch-jüdi-
schen Publizisten bezeichnete den Krieg daher gar als jüdischen „Bruderkrieg“.
Schwer zu rechtfertigen war es für deutsche Juden vor allem, dass sie ein Land
bekämpften, das eine Vorreiterrolle in der Juden-Emanzipation einnahm und das ihnen
daher seit der Französischen Revolution als Vorbild galt. Es war nicht zu bestreiten,
dass die Stellung der französischen Juden in vielen Punkten besser war als ihre eigene.
Juden in Frankreich, aber auch in anderen, nicht am Krieg beteiligten Ländern,
hielten ihren deutschen Glaubensgenossen deshalb vor, gegen die gemeinsame jüdi-
sche Sache zu kämpfen. Dieser Vorwurf gewann an Virulenz, als mit der Forderung
einer Annexion von Elsass-Lothringen der Krieg für Deutschland den Charakter
eines reinen Verteidigungskrieges verlor. Denn die elsässischen Juden — und das heißt
über die Hälfte der französischen Juden — fürchteten, dass sich mit der Angliederung
an das Reich ihr rechtlicher Status verschlechtern würde.Viele von ihnen emigrier-
ten daher nach Frankreich oder in die USA.
 
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