20. Mai 2006
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In der jüdischen Öffentlichkeit in Frankreich und Deutschland wurde dem
Verhältnis zu den Glaubensgenossen im jeweils anderen Land große Aufmerksamkeit
geschenkt. Bis zum Krieg hatten deutsche und französische Juden relativ gute Bezie-
hungen gepflegt, nun wurden diese stark belastet. Beide Seiten beklagten dies sehr,
denn die länderübergreifende Solidarität in der Diaspora stellte einen zentralen
Bestandteil jüdischen Selbstverständnisses dar.
Für deutsche Juden galt es also, Position zu beziehen im Loyalitätskonflikt zwi-
schen Vaterland und Judentum. Ihre Antworten fielen recht unterschiedlich aus. Eini-
ge Autoren versuchten zu belegen, dass die Stellung der Juden in Deutschland
genauso gut oder gar besser sei als in Frankreich. Sie verwiesen z.B. darauf, dass die
ersten Impulse für die rechtliche Gleichstellung der Juden in der Aufklärungszeit von
Deutschland ausgegangen seien.
Viele andere aber brachten weiterhin ihre Verbundenheit zum Emanzipations-
vorreiter Frankreich zum Ausdruck. Sie betonten die gute rechtliche Stellung der
französischen Juden und suchten Druck auf die deutsche Gesellschaft auszuüben,
indem sie darlegten, dass sogar im Feindesland die Juden besser gestellt seien. Gera-
de im Hinblick auf den hohen jüdischen Bevölkerungsanteil im Elsass rieten sie der
Reichsregierung, die Gleichstellung der Juden unter Beweis zu stellen, um die Elsäs-
ser als patriotische Landsleute zu gewinnen. Eine solche Argumentation war für sie
aber stets eine Gratwanderung, denn zollten sie Frankreich eine zu große Anerken-
nung, mussten sie mit dem Vorwurf der Franzosenfreundschaft rechnen, der den
gefürchteten Zweifeln an ihrer Loyalität Vorschub leisten konnte.
Dennoch ist festzustellen, dass die meisten jüdischen Autoren ein viel
schwächer ausgeprägtes Feindbild von den Franzosen zeichneten als sonst in der
deutschen Öffentlichkeit üblich. Zwar stimmten einige Juden in die Rhetorik der
von einem nationalen Sendungsbewusstsein geprägten allgemeinen deutschen Publi-
zistik ein, und nicht immer gelang es ihnen, die Widersprüche zwischen ihrer patrio-
tischen Begeisterung und der Annerkennung der emanzipatorischen Verdienste
Frankreichs in Einklang zu bringen. Wie die meisten Deutschen — ja vielleicht auf-
grund der Aussichten auf die vollständige rechtliche Gleichstellung noch stärker als
diese — richteten viele Juden große Hoffnungen auf den Krieg und die Reichseini-
gung. Dennoch nannten jüdische Beobachter gemeinhin die Gefahren von Krieg
und Nationalismus deutlicher bei ihrem Namen als die meisten ihrer Zeitgenossen.
Im Appell an Frieden und Völkerverständigung erblickten sie eine spezifisch jüdische
Aufgabe.
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In der jüdischen Öffentlichkeit in Frankreich und Deutschland wurde dem
Verhältnis zu den Glaubensgenossen im jeweils anderen Land große Aufmerksamkeit
geschenkt. Bis zum Krieg hatten deutsche und französische Juden relativ gute Bezie-
hungen gepflegt, nun wurden diese stark belastet. Beide Seiten beklagten dies sehr,
denn die länderübergreifende Solidarität in der Diaspora stellte einen zentralen
Bestandteil jüdischen Selbstverständnisses dar.
Für deutsche Juden galt es also, Position zu beziehen im Loyalitätskonflikt zwi-
schen Vaterland und Judentum. Ihre Antworten fielen recht unterschiedlich aus. Eini-
ge Autoren versuchten zu belegen, dass die Stellung der Juden in Deutschland
genauso gut oder gar besser sei als in Frankreich. Sie verwiesen z.B. darauf, dass die
ersten Impulse für die rechtliche Gleichstellung der Juden in der Aufklärungszeit von
Deutschland ausgegangen seien.
Viele andere aber brachten weiterhin ihre Verbundenheit zum Emanzipations-
vorreiter Frankreich zum Ausdruck. Sie betonten die gute rechtliche Stellung der
französischen Juden und suchten Druck auf die deutsche Gesellschaft auszuüben,
indem sie darlegten, dass sogar im Feindesland die Juden besser gestellt seien. Gera-
de im Hinblick auf den hohen jüdischen Bevölkerungsanteil im Elsass rieten sie der
Reichsregierung, die Gleichstellung der Juden unter Beweis zu stellen, um die Elsäs-
ser als patriotische Landsleute zu gewinnen. Eine solche Argumentation war für sie
aber stets eine Gratwanderung, denn zollten sie Frankreich eine zu große Anerken-
nung, mussten sie mit dem Vorwurf der Franzosenfreundschaft rechnen, der den
gefürchteten Zweifeln an ihrer Loyalität Vorschub leisten konnte.
Dennoch ist festzustellen, dass die meisten jüdischen Autoren ein viel
schwächer ausgeprägtes Feindbild von den Franzosen zeichneten als sonst in der
deutschen Öffentlichkeit üblich. Zwar stimmten einige Juden in die Rhetorik der
von einem nationalen Sendungsbewusstsein geprägten allgemeinen deutschen Publi-
zistik ein, und nicht immer gelang es ihnen, die Widersprüche zwischen ihrer patrio-
tischen Begeisterung und der Annerkennung der emanzipatorischen Verdienste
Frankreichs in Einklang zu bringen. Wie die meisten Deutschen — ja vielleicht auf-
grund der Aussichten auf die vollständige rechtliche Gleichstellung noch stärker als
diese — richteten viele Juden große Hoffnungen auf den Krieg und die Reichseini-
gung. Dennoch nannten jüdische Beobachter gemeinhin die Gefahren von Krieg
und Nationalismus deutlicher bei ihrem Namen als die meisten ihrer Zeitgenossen.
Im Appell an Frieden und Völkerverständigung erblickten sie eine spezifisch jüdische
Aufgabe.