9. Juni 2007
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1918/19 in der Tat nichts übriggeblieben. Der vollständige militärische und morali-
sche Zusammenbruch des Gegners befreite die Sieger vom Zwang zur Mäßigung,
da der Besiegte über keine Möglichkeit verfügte, den Kampf wieder aufzunehmen.
Bis 1914 waren die Friedensbestimmungen gewissermaßen eingehegt durch Nor-
men und Formeln, gegen die man nicht verstieß; die Verträge von 1919 verweiger-
ten dem Unterlegenen selbst die Friedensformel und konstatierten lediglich das
Ende des Kriegszustandes. Allerdings hatten die Friedensschlüsse von 1871 und 1878
bereits em bedenkliches Präjudiz geliefert.
Die Mittelmächte gingen im Ersten Weltkrieg mit schlechtem Beispiel voran.
Der Frieden von Brest-Litowsk von März 1918 war em Diktatfrieden fast ohne
Rücksichtnahme auf den Unterlegenen. In ihm wiederholte sich im übrigen erst-
mals die Konstellation der Französischen Revolution: Sieger und Besiegter operier-
ten von einer prinzipiell gegensätzlichen ideologischen Grundlage aus. Daher wurde
in den Formalelementen deutlich von den Gepflogenheiten abgewichen. Erstmals
schlossen Länder - ohne Staatsformbezeichnung — einen Friedensvertrag: Deutsch-
land, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich auf der einen, Ruß-
land auf der anderen Seite. Die Bevollmächtigten waren zudem von ihren Regie-
rungen legitimiert, nicht, wie bisher üblich, von den Staatsoberhäuptern, deren
Namen offenbar nicht in kompromittierende Berührung mit dem bolschewistischen
Rätesystem kommen sollten. Dennoch wurde die Friedensformel beibehalten: „Die
bisherigen Kriegsparteien erklären, daß der Kriegszustand zwischen ihnen beendet
ist. Sie sind entschlossen, fortan in Frieden und Freundschaft miteinander zu leben.“
Schon der folgende Artikel spiegelte jedoch die ideologische Spaltung deutlich
wider.Wie in Campo Formio 1797 verpflichteten sich die Vertragschließenden 1918,
,jede Agitation oder Propaganda gegen die Regierung oder die Staats- und Hee-
reseinrichtungen des anderen Teiles zu unterlassen“ (Art. 2). Auch die Bestimmun-
gen über die Rückführung der Kriegsgefangenen, deren genaue Regelung ebenso
wie die Amnestiefrage in einem eigenen Zusatzvertrag erfolgte, ließen erkennen, wie
sehr sich die Welt geändert hatte. Bisher hatten die Friedensverträge stets die kosten-
lose Rückschaffung in das jeweilige Heimatland verbürgt. Nur im Frieden von
Adrianopel 1829 zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich war Vorsorge
getroffen worden, daß gefangene Christen, die Mohammedaner geworden waren
und umgekehrt, in dem Staat ihrer neuen Religion bleiben durften (Art. 14). In
Brest-Litowsk wurden drei Möglichkeiten vorgesehen: Rückkehr in die Heimat;
Verbleib im „Nehmestaat“, sofern dieser dazu bereit war; Ausreise in ein drittes
Land. Dasselbe galt für internierte oder deportierte Zivilpersonen. Jeder Staat ver-
pflichtete sich, dem Aufbewahrungsland die Aufwendungen für seine Gefangenen zu
erstatten, sofern die Kosten nicht durch deren Arbeit in Staats- oder Privatbetrieben
abgegolten waren.
Auch der Amnestieartikel war mit 27 Paragraphen weit differenzierter als sonst
angelegt: Amnestie erstreckte sich auf alle, die Straftaten zugunsten eines Gegner-
staates begangen hatten, bei Bewohnern besetzter Gebiete auf ihr politisches und
militärisches Verhalten in der Besatzungszeit sowie schließlich auf Arbeiten, die
Kriegsgefangene und Zivilinternierte im Gewahrsamsstaat ausgeführt hatten.
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1918/19 in der Tat nichts übriggeblieben. Der vollständige militärische und morali-
sche Zusammenbruch des Gegners befreite die Sieger vom Zwang zur Mäßigung,
da der Besiegte über keine Möglichkeit verfügte, den Kampf wieder aufzunehmen.
Bis 1914 waren die Friedensbestimmungen gewissermaßen eingehegt durch Nor-
men und Formeln, gegen die man nicht verstieß; die Verträge von 1919 verweiger-
ten dem Unterlegenen selbst die Friedensformel und konstatierten lediglich das
Ende des Kriegszustandes. Allerdings hatten die Friedensschlüsse von 1871 und 1878
bereits em bedenkliches Präjudiz geliefert.
Die Mittelmächte gingen im Ersten Weltkrieg mit schlechtem Beispiel voran.
Der Frieden von Brest-Litowsk von März 1918 war em Diktatfrieden fast ohne
Rücksichtnahme auf den Unterlegenen. In ihm wiederholte sich im übrigen erst-
mals die Konstellation der Französischen Revolution: Sieger und Besiegter operier-
ten von einer prinzipiell gegensätzlichen ideologischen Grundlage aus. Daher wurde
in den Formalelementen deutlich von den Gepflogenheiten abgewichen. Erstmals
schlossen Länder - ohne Staatsformbezeichnung — einen Friedensvertrag: Deutsch-
land, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich auf der einen, Ruß-
land auf der anderen Seite. Die Bevollmächtigten waren zudem von ihren Regie-
rungen legitimiert, nicht, wie bisher üblich, von den Staatsoberhäuptern, deren
Namen offenbar nicht in kompromittierende Berührung mit dem bolschewistischen
Rätesystem kommen sollten. Dennoch wurde die Friedensformel beibehalten: „Die
bisherigen Kriegsparteien erklären, daß der Kriegszustand zwischen ihnen beendet
ist. Sie sind entschlossen, fortan in Frieden und Freundschaft miteinander zu leben.“
Schon der folgende Artikel spiegelte jedoch die ideologische Spaltung deutlich
wider.Wie in Campo Formio 1797 verpflichteten sich die Vertragschließenden 1918,
,jede Agitation oder Propaganda gegen die Regierung oder die Staats- und Hee-
reseinrichtungen des anderen Teiles zu unterlassen“ (Art. 2). Auch die Bestimmun-
gen über die Rückführung der Kriegsgefangenen, deren genaue Regelung ebenso
wie die Amnestiefrage in einem eigenen Zusatzvertrag erfolgte, ließen erkennen, wie
sehr sich die Welt geändert hatte. Bisher hatten die Friedensverträge stets die kosten-
lose Rückschaffung in das jeweilige Heimatland verbürgt. Nur im Frieden von
Adrianopel 1829 zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich war Vorsorge
getroffen worden, daß gefangene Christen, die Mohammedaner geworden waren
und umgekehrt, in dem Staat ihrer neuen Religion bleiben durften (Art. 14). In
Brest-Litowsk wurden drei Möglichkeiten vorgesehen: Rückkehr in die Heimat;
Verbleib im „Nehmestaat“, sofern dieser dazu bereit war; Ausreise in ein drittes
Land. Dasselbe galt für internierte oder deportierte Zivilpersonen. Jeder Staat ver-
pflichtete sich, dem Aufbewahrungsland die Aufwendungen für seine Gefangenen zu
erstatten, sofern die Kosten nicht durch deren Arbeit in Staats- oder Privatbetrieben
abgegolten waren.
Auch der Amnestieartikel war mit 27 Paragraphen weit differenzierter als sonst
angelegt: Amnestie erstreckte sich auf alle, die Straftaten zugunsten eines Gegner-
staates begangen hatten, bei Bewohnern besetzter Gebiete auf ihr politisches und
militärisches Verhalten in der Besatzungszeit sowie schließlich auf Arbeiten, die
Kriegsgefangene und Zivilinternierte im Gewahrsamsstaat ausgeführt hatten.