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FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
werden. Es fragt danach, wie sich seit der Antike aus den zum Teil topischen
Beschreibungsmustern kulturelle Deutungsspielräume des menschlichen Lebenslaufs
eröffneten, die bis heute anschlussfähig erscheinen. Hierzu werden religiöse und
poetische Konzepte des Alterns und der Altersstufen verglichen und auf ihre prag-
matische und ästhetische Variabilität hin untersucht, um zu verstehen, wie sich aus
traditionellen Wissensbeständen neue Aussagen und Bewertungen formieren. Dabei
zielt unsere Methode weder auf eine bloße Diskursgeschichte noch auf eine Wis-
sensgeschichte des Alterns, sondern darauf, die religiöse, rhetorische und poetische
Distanznahme zum jeweiligen Diskurs als Innovationspotential für eine kulturelle
Neubewertung zu betrachten. Die Konzeptualisierung von Alterszäsuren und der
mit ihnen korrespondierenden Alterstufen bildet einen heuristischen Schwerpunkt,
da in ihnen naturkundliches und kulturelles Wissen vom Menschen Zusammentref-
fen und einander überlagern. Wie biologisches, soziales und individuelles Altern über
Zäsuren im Lebenszyklus jeweils konzeptuahsiert und gedeutet wird, soll an vier
distinkten Textkorpora ästhetisch geformter Literatur nachgezeichnet werden. Die
religiösen und poetischen Texte halten hierzu einen reichen kulturellen Gedächtnis-
speicher bereit, dessen Wissen über die Struktur der menschlichen Lebenszeit im
Spannungsfeld von anthropologischer Konstanz, kultureller Differenz und beschleu-
nigtem historischen Wandel angelegt ist. Darüber hinaus sind sie aber immer auch als
ästhetische Kommentare zu den Konventionen des Alterns zu lesen, die Neuinter-
pretationen des menschlichen Lebenszyklus erst ermöglichten.
Unser Projekt legt vier sich ergänzende historische und diskursive Schnitte an:
1) Texte der biblischen Tradition zur Altersthematik (wie beispielsweise Psalm 71;
Psalm 92; Koh 11,9-12,7; Weish 4,7-20),
2) narrative und rhetorische Texte der römischen Kaiserzeit, in denen Topoi von
Lebensaltern Teil von Legitimierungsstrategien sind (narrative Texte von Apu-
leius, Petron und Lukian, rhetorische von Apuleius und Tertullian),
3) Romane des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die den Lebenslauf des Prota-
gonisten mit einer Generationenperspektive kombinieren (Hartmann von Aue:
Gregorius; Wolfram von Eschenbach: Parzival; Gottfried von Straßburg: Tristan;
Thüring von Rmgoltingen: Melusine; Fortunatus') und
4) Romane und Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen ein ‘kritisches
Alter’ als Zäsur bestimmt und verhandelt wird. Das komparatistische Korpus
umfasst knapp fünfzig Texte von Johann Wolfgang von Goethes Der Mann von
fünfzig Jahren über Honore Balzacs La femme de trente ans bis zu Hermann Kestens
Ein Mann von sechzig Jahren.
Ausgehend von der Annahme, dass jeder der vier Zeitschnitte wie auch die
Textkorpora nach einem spezifischen Modell kulturwissenschaftlicher Anthropolo-
gie verlangen, zielt die Zusammenarbeit der benachbarten Textwissenschaften
methodisch auf eine reflektierte Integration verschiedener‘Anthropologien’. Inhalt-
lich soll die Kooperation die Interferenzen und Konkurrenzen von Sinnstiftungs-
strategien erkennbar werden lassen und Aufschluss darüber geben, unter
welchen Voraussetzungen es zur Ablösung überkommener Lebensaltermodelle
kommen konnte. So dient die historische Tiefe der Untersuchung sowohl dazu,
FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
werden. Es fragt danach, wie sich seit der Antike aus den zum Teil topischen
Beschreibungsmustern kulturelle Deutungsspielräume des menschlichen Lebenslaufs
eröffneten, die bis heute anschlussfähig erscheinen. Hierzu werden religiöse und
poetische Konzepte des Alterns und der Altersstufen verglichen und auf ihre prag-
matische und ästhetische Variabilität hin untersucht, um zu verstehen, wie sich aus
traditionellen Wissensbeständen neue Aussagen und Bewertungen formieren. Dabei
zielt unsere Methode weder auf eine bloße Diskursgeschichte noch auf eine Wis-
sensgeschichte des Alterns, sondern darauf, die religiöse, rhetorische und poetische
Distanznahme zum jeweiligen Diskurs als Innovationspotential für eine kulturelle
Neubewertung zu betrachten. Die Konzeptualisierung von Alterszäsuren und der
mit ihnen korrespondierenden Alterstufen bildet einen heuristischen Schwerpunkt,
da in ihnen naturkundliches und kulturelles Wissen vom Menschen Zusammentref-
fen und einander überlagern. Wie biologisches, soziales und individuelles Altern über
Zäsuren im Lebenszyklus jeweils konzeptuahsiert und gedeutet wird, soll an vier
distinkten Textkorpora ästhetisch geformter Literatur nachgezeichnet werden. Die
religiösen und poetischen Texte halten hierzu einen reichen kulturellen Gedächtnis-
speicher bereit, dessen Wissen über die Struktur der menschlichen Lebenszeit im
Spannungsfeld von anthropologischer Konstanz, kultureller Differenz und beschleu-
nigtem historischen Wandel angelegt ist. Darüber hinaus sind sie aber immer auch als
ästhetische Kommentare zu den Konventionen des Alterns zu lesen, die Neuinter-
pretationen des menschlichen Lebenszyklus erst ermöglichten.
Unser Projekt legt vier sich ergänzende historische und diskursive Schnitte an:
1) Texte der biblischen Tradition zur Altersthematik (wie beispielsweise Psalm 71;
Psalm 92; Koh 11,9-12,7; Weish 4,7-20),
2) narrative und rhetorische Texte der römischen Kaiserzeit, in denen Topoi von
Lebensaltern Teil von Legitimierungsstrategien sind (narrative Texte von Apu-
leius, Petron und Lukian, rhetorische von Apuleius und Tertullian),
3) Romane des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die den Lebenslauf des Prota-
gonisten mit einer Generationenperspektive kombinieren (Hartmann von Aue:
Gregorius; Wolfram von Eschenbach: Parzival; Gottfried von Straßburg: Tristan;
Thüring von Rmgoltingen: Melusine; Fortunatus') und
4) Romane und Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen ein ‘kritisches
Alter’ als Zäsur bestimmt und verhandelt wird. Das komparatistische Korpus
umfasst knapp fünfzig Texte von Johann Wolfgang von Goethes Der Mann von
fünfzig Jahren über Honore Balzacs La femme de trente ans bis zu Hermann Kestens
Ein Mann von sechzig Jahren.
Ausgehend von der Annahme, dass jeder der vier Zeitschnitte wie auch die
Textkorpora nach einem spezifischen Modell kulturwissenschaftlicher Anthropolo-
gie verlangen, zielt die Zusammenarbeit der benachbarten Textwissenschaften
methodisch auf eine reflektierte Integration verschiedener‘Anthropologien’. Inhalt-
lich soll die Kooperation die Interferenzen und Konkurrenzen von Sinnstiftungs-
strategien erkennbar werden lassen und Aufschluss darüber geben, unter
welchen Voraussetzungen es zur Ablösung überkommener Lebensaltermodelle
kommen konnte. So dient die historische Tiefe der Untersuchung sowohl dazu,