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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0104
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SITZUNGEN

Ganz analog kann man in der Aussagenlogik einen Aussageinhalt konzipieren,
der seine eigene Negation (bzw. dieser logisch äquivalent) ist: V ♦->— (v) <->~(~(v))
- — (~(~(. ••)))•
Aber die Analogie hat folgende Grenze: Wenn man einen abstrakten Gegen-
stand konzipiert hat (wie die Einermenge-ihrer-selbst), kann man sich ergebnisoffen
fragen, ob der Gegenstand existiert. Wenn man aber einen Aussageinhalt konzipiert
hat, hat man ihm ipso facto Existenz verliehen; denn für einen Aussageinhalt gilt: esse
est concipi posse. Man kann jetzt nur noch fragen, ob der konzipierte Aussageinhalt
wahr oder falsch ist. Das aber führt im vorliegenden Fall zu einem unbehebbaren
Widerspruch, einer Antinomie. Denn wenn die Negation-ihrer-selbst wahr ist, so gilt
ihrem Inhalt zufolge ihre Negation, und wenn sie nicht wahr ist, aus diesem ande-
ren Grunde ebenfalls.
Man könnte einwenden, die Negation-ihrer-selbst lasse sich nicht sprachlich
formulieren, außer — per impossibile — als eine nach rechts unendliche Folge von
Negationszcichen:
Darauf ließe sich antworten, daß es genügt, einen Gedankeninhalt zu spezifizieren,
um ihm Existenz zu sichern, auch wenn er dann nicht bündig als Satz einer end-
lichen Sprache formulierbar ist.
Aber diese Antwort wäre unnötig defensiv; denn auf einem Umweg läßt sich
die Negation-ihrer-selbst sehr wohl ausdrücken, nämlich unter Verwendung des
Wahrheitsprädikates. Das führt uns zu dem angekündigten Beispiel. Es handelt sich
um die bekannte Antinomie vom Lügner: „Dieser Satz ist nicht wahr“. Wenn der
Satz wahr ist, so trifft es zu, daß er nicht wahr ist. Wenn er aber nicht wahr ist, so gilt
seine Selbstaussage, ist er also wahr. Er ist folglich wahr dann und nur dann, wenn er
nicht wahr ist — ein Widerspruch, und zwar einer, von dem wir uns nicht distanzie-
ren, den wir nicht effektiv verneinen können; denn das macht er schon selber, und
wenn wir es ihm nachtun, schließen wir uns ihm nur an und bekräftigen ihn. Sobald
wir die Aussage des Lügners auch nur verstehen und in Erwägung ziehen, sind wir
in der Antinomie gefangen. Was er ausdrückt, ist die Negation-ihrer-selbst.
Das Denken als solches ist widerspruchsvoll, und wir können seine Inkonsi-
stenz nur heilen durch Inkonsequenz: indem wir von bestimmten Folgerungsmög-
lichkeiten abstrahieren, sie brachlegen. Sofern uns das gelingt, ist die Antinomie kei-
neswegs von Übel, sondern ein Beleg der noblen Abkunft unseres Denkens, das sich
eben nicht maschinell simulieren und trivialisieren läßt. Aber viele Philosophen
sehen das anders und versuchen, die Antinomie zu zerreden, etwa mit der Ausrede,
daß mit dem Lügnersatz keine Aussage gemacht werde, weil er sinnlos, unverständ-
lich sei. Aber der Wunsch, ihn nicht zu verstehen, stellt sich erst ein, wenn man ihn
verstanden hat. Wer ihn partout für sinnlos erklären möchte, hat drei Quellen mög-
licher Sinnlosigkeit zur Auswahl, erstens das selbstbezügliche Satzsubjekt: „dieser
Satz“, zweitens das semantische Prädikat: „ist wahr“, drittens die aussagenlogische
Negation: „nicht“. Der frühe Wittgenstein ergriff die erste Option, indem er lehrte,
kein Satz könne etwas über sich selbst aussagen. Aber der Satz „Dieser Satz hat fünf
 
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