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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0109
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23. Oktober 2009

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Religion als Legitimationsquelle in Anspruch nimmt, nur in Form einer Korrelatio-
nalitätsthese. Diese besagt: Es gibt Pathologien in der Religion (z.B. Fundamentalis-
men), von denen der Glaube durch Vernunft gereinigt, und andererseits Pathologien
der Vernunft (Formen von Hybris der Vernunft), vor denen sie durch den Glauben
geschützt werden muß (DS 56). Umgekehrt kommt auch Habermas seinem
Gesprächspartner entgegen, indem er der Religion zwar keine legitimatorische, wohl
aber unter bestimmten Bedingungen eine motivationale Funktion für die Stärkung
der staatsbürgerlichen Solidarität zugesteht und die Korrelationalitätssthese im übri-
gen von expliziter Kritik ausnimmt, obwohl er zu erkennen gibt, daß er sie nicht
teilt.
Seine explizite Kritik gilt vier anderen Positionen: 1. dem Kontextualismus,
2. dem Rechtspositivismus, 3. dem Rechtshegelianismus und 4. dem Linkshegelia-
nismus. Diese ergeben im Verein mit 5. Habermas’ eigenem Liberalismus und 6. Rat-
zingers Korrelationalitätsthese eine Liste von sechs Positionen, in Beziehung auf die
sich die Konsequenzen profilieren lassen, die aus der Antinomie- und der Subjekti-
vitätsthese für die politische Philosophie zu ziehen sind.
Der Kontextualismus oder Historismus verwirft den Gedanken einer allge-
meinverbindlichen Rechtfertigung eines demokratischen Staates. Habermas atte-
stiert dieser Position einen defätistischen Vernunftbegriff (DS 19) bzw. eine radikale
Vernunftskepsis. Er denkt dabei an „postmoderne“ Theorien, die die unübersehba-
ren Krisen „der fragmentierten Weltgesellschaft“ vernunftkritisch begreifen: „als
logisches Ergebnis des Programms einer selbstdestruktiven [...] Rationalisierung“
(DS 27).
Den Rechtspositivismus, für den er Hans Kelsen und Niklas Luhmann anführt,
sieht Habermas durch einen dezisionistischen Begriff der Rechtsgeltung definiert
(vgl. DS 19f.). Deswegen scheidet diese Position dann aber für die weitere Diskus-
sion aus, da sie sich ja an der Suche nach vorstaatlichen normativen Grundlagen des
Staates gar nicht beteiligt.
Dem rechtshegelianischen Staatsverständnis zufolge ist „der Geltungsanspruch
des positiven Rechts auf eine Fundierung in den vorpolitischsittlichen Überzeugun-
gen religiöser oder nationaler Gemeinschaften angewiesen“ (DS 20). Sowohl theo-
kratische als auch national orientierte Konzeptionen (solche, die auf der substantiel-
len Volkssouveränität insistieren) wären unter diese Rubrik zu subsumieren. Wo reli-
giöse Fundierungsvorstellungen, etwa unter dem Einfluß des Kontextualismus, ihre
Inhalte verlieren, so daß nur schiere religiöse Musikalität übrigbleibt, droht im übri-
gen — Habermas denkt ersichtlich an Heidegger —
jener Nietzscheanismus, der sich die christlichen Konnotationen von Hören
und Vernehmen, Andacht und Gnadenerwartung, Ankunft und Ereignis bloß
ausleiht, um ein propositional entkerntes Denken hinter Christus und Sokra-
tes ins unbestimmt Archaische zurückzurufen. (DS 30)
Die linkshegelianische Position ist, wie Habermas 2001 formulierte, in seiner Frie-
denspreisrede über „Glauben und Wissen“, geprägt von dem „Pathos einer entsubli-
mierenden Verwirklichung von Gottes Reich auf Erden“, das „die Religionskritik
 
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