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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0111
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23. Oktober 2009 | 127

einmal gesondert in Rechnung zu stellen, denn eine Polis ist ein Ganzes aus
Subjekten und auch ihrerseits durch einen ihr eigenen epistemischen Standpunkt
definiert. Es gibt demnach nicht die ideale demokratische Verfassung im singularis
maiestatis; vielmehr schickt sich wie im Persönlichen, so im Politischen nicht eines
für alle, für Frankreich womöglich kein Föderalismus und für Deutschland kein
republikanischer Zentralismus.
Hier liegt das Wahrheitsmoment des Kontextualismus, der nur darin irrt, daß
er das begrenzte Moment seiner Wahrheit für die ganze Wahrheit über die Polis hält.
Zwar schickt sich nicht ein und dieselbe Verfassung für alle Poleis; aber es läßt sich
auch kein Bereich der Polis isolieren, welcher der Verrechtlichung nach demokrati-
schen Prozeduren unzugänglich wäre, so wenig wie ein Bereich des Realen, welcher
der physikalischen Erfassung unzugänglich wäre. Jeder Aspekt ist zugänglich, sei es
der Verrechtlichung, sei es der physikalischen Erfassung, aber nicht alle zusammen —
wie ja auch aus ganz anderen Gründen jeder Zustand eines Elementarteilchens
bestimmbar ist, aber nicht alle zusammen.
In dieser, wenn man sie so nennen will, Unschärfe des Politischen liegt übri-
gens eine verborgene Pointe der Aristotelischen Definition des Menschen als des
zdon politikon. Daß der Mensch nicht alleine lebt, ist ja auf den ersten Blick kaum der
Rede wert, obwohl auch darin noch eine verborgene Pointe liegt (siehe unten,
Nachtrag). Bemerkenswert ist indessen, daß zwischen ihm und seiner Gattung die
Polis nach Art einer Art vermittelt. Insofern ist es ein schöner oder gar kein Zufall,
daß wir die Menschheit „Gattung“ nennen, nicht „Art“. Zu seiner Art nämlich ver-
hält sich (in der Aristotelischen Ontologie) das Individuum unmittelbar; ihr eidos ist
sein eidos. Zwischen der Gattung und dem Individuum hingegen bedarf es einer Ver-
mittlung, ontologisch durch die Art und in der Praxis durch die Polis. Naturge-
schichte und Sozialgeschichte, Biologie und Politik, obwohl sonst innig verflochten,
treten hier einmal erkennbar auseinander; denn biologisch ist die Menschheit unse-
re Art, politisch aber unsere Gattung.
Das hat Konsequenzen für die Möglichkeit und Legitimität einer politisch
verfaßten Weltgesellschaft bzw. eines Weltstaates. Der Weltstaat kann ein Status, eine
Rechtsordnung zwischen Poleis, aber selbst keine Polis mehr sein. (Nebenbei
bemerkt, wäre eine Polis, aus der man nicht auswandern könnte, ein Alptraum.)
Hier wird erkennbar, wie gut sich der Terminus „Polis“ zur Bezeichnung der sich
entziehenden substantiellen Grundlage des Staates eignet. Was wir nämlich in der
Globalisierung erleben, ist die Entstehung eines Raumes von Poleis, der im Großen
wiederholt, was in der griechischen Welt schon einmal realisiert war: eine Koino-
nie von Poleis. Es fehlt dem Erdkreis nur zweierlei: nach außen die Entsprechung
zur nichtgriechischen, barbarischen Welt, also extraterrestrische Zivilisationen, und
nach innen eine Koine als Entsprechung zur griechischen Sprache. Chinesisch,
Englisch, Spanisch, Hindi, Arabisch, Portugiesisch, Russisch, Französisch japanisch,
Deutsch, Italienisch - es gibt zu viele große Sprachen, als daß der Erdkreis zu
einem perfekten Analogon der klassischen griechischen Welt zusammenwachsen
könnte. Aber etwas davon wird mit der Globalisierung zunehmend realisiert wer-
den.
 
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