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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Antrittsreden
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Reinkowski, Maurus: Antrittsrede vom 24. Oktober 2009
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0139
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Maurus Reinkowski | 155

dieses Studium war einfach und abstrakt zugleich: Sprachen und Geschichte hatten
mich immer begeistert, aber es sollte eine andere Geschichte sein als die europäische,
und es sollten andere Sprachen sein als europäische.
Mein Weg führte mich weiter von München über Istanbul nach Wien. In Wien
erlebte ich meine tiefste Sinnkrise im Studium. Wenn die Antrittsreden mit einer
Überschrift zu versehen wären, hätte ich mich für „Vom Trost der Philologie“ ent-
schieden, und wohl nicht lange gezögert, die Überschrift mit einem deutlichen
Fragezeichen zu versehen. Wenig hat mich so geprägt in Schule, Studium und spä-
terem wissenschaftlichen Berufsleben wie die Anforderungen und Möglichkeiten,
die Verheißungen und Enttäuschungen der Philologie. Das Wiener Seminar für
orientalische Sprachen war im 18. Jahrhundert gegründet worden, um im politisch-
diplomatischen Umgang mit dem Osmanischen Reich nicht mehr auf die in Istan-
bul lebenden, einheimischen ,Dragomanen‘ (professionelle Mittler und Dolmetscher
aus christlichen Dynastien unter osmanischer Herrschaft) angewiesen zu sein. Über
die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg war jedoch diese ursprünglich ganz prak-
tisch orientierte Sprachenkunde zu einer Philologie um der Philologie willen
erstarrt.
Zur Promotion wechselte ich 1989 an die Universität Bamberg. Erst beim
Schreiben der Dissertation, einer Abhandlung zu historiographischen Deutungen der
Ursprünge des Palästina-Konflikts, entdeckte ich, wie sehr wissenschaftliches Schrei-
ben Glücksgefühle auslösen kann, dass also Wissenschaft durchaus anspruchs- und
freudvoll zugleich sein kann. Für diese Erkenntnis bin ich meinen damaligen Leh-
rern, allen voran Klaus Kreiser, zu Dank verpflichtet.
Von nun an ging es - so erscheint es im verklärenden Rückblick - wie von
selbst: 1995 erhielt ich ein Jahresstipendium für das Van Leer Institute in Jerusalem.
Es folgten zwei Jahre als Referent am Orient-Institut Istanbul. In diese Zeit fiel die
Gründung einer Familie mit meiner Frau Ljiljana, einer Slavistin, die derzeit an der
Universität Tübingen arbeitet. Wir waren eine ,Wissenschaftsfamilie“, mit allen, zum
Teil eingebildeten, Gehetzt- und Unsicherheiten. Unser Sohn wird uns noch in spä-
teren Jahrzehnten an das, für ihn oft verloren gegangene Ringen zwischen Spiel-
und Arbeitszimmer erinnern. Zurück wieder in Bamberg folgte die Arbeit an der
Habilitation, einer vergleichenden Untersuchung über die osmanische Reformpoli-
tik im 19. Jahrhundert. Mit dem Abschluss der Habilitation sah ich mich selbst schon
längst nicht mehr als Philologen, sondern als Historiker der neueren und neuesten
Geschichte des östlichen Mittelmeerraums, das in einem weiten Bogen von Bosnien
bis nach Ägypten reicht. Nach einer einjährigen Vertretung einer Professur an der
Universität München folgte 2004 der Ruf auf den Lehrstuhl für Islamwissenschaft
und Geschichte der islamischen Völker an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Die ersten Jahre in Freiburg waren intensive und manchmal schwere Lehrjahre.
Die Lehre für die Studierenden, in Umfang und Vielfältigkeit, war eine Herausfor-
derung (und wird immer eine bleiben). Zudem wird im deutschen Hochschulsystem
noch immer davon ausgegangen, dass man mit der Ernennung zum Lehrstuhlinha-
ber von Stund an, wenn nicht mit göttlicher, so doch ministerieller Erleuchtung ver-
sehen, die Fähigkeiten eines Personalplaners, Moderators und Organisators erwirbt.
 
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