Z12 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
WALTER-WITZE NM ANN-PREIS
STEPHAN HERZBERG:
„Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles“
Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs wird immer wieder gerne als empiristisch
charakterisiert. Dafür scheinen nicht nur einige programmatische Passagen zu spre-
chen, in denen Aristoteles die zentrale Bedeutung der Wahrnehmung für den Erwerb
demonstrativen Wissens (episteme) betont (vgl. An. Post. I 18, 81a38f.; De an. III 8,
432a7f.). Auch die grundsätzliche Annahme, daß der Intellekt über keine angebore-
nen und unbewußt vorliegenden Wissensinhalte verfügt, scheint auf eine empiristi-
sche Epistemologie hinauszulaufen: Die für das demonstrative Wissen konstitutive
Kenntnis der Prinzipien wird nach Aristoteles allein auf der Basis der Wahrnehmung
als einem unterscheidungsfähigen Vermögen erworben (An. Post. II 19). Auf der
anderen Seite betont Aristoteles im Hinblick auf das demonstrative Wissen auch die
Grenzen der Wahrnehmung (An. Post. I 31, 87b28). Das Problem ist nun, wie all
diese Aussagen genauer zu verstehen sind und was sich daraus für die epistemologi-
sche Funktion der Wahrnehmung im ganzen ergibt: Was trägt die Wahrnehmung
zum Wissenserwerb bei? In welcher Weise arbeitet sie mit dem Intellekt zusammen?
Bildet die Wahrnehmung die rechtfertigende Basis, auf die sich unser ganzes Wissen
begründend zurückführen läßt? Oder hat die Wahrnehmung bloß die kausale Funk-
tion, unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen zu versorgen?
Diese Fragen wurden bisher vor allem anhand des Schlußkapitels der Zweiten Analy-
tiken behandelt; umstritten ist hier, wie der bei der Wahrnehmung ansetzende induk-
tive Vorgang (epagöge) und der Intellekt (rums') jeweils verstanden und im Hinblick
auf die Prinzipien-Erkenntnis zueinander gewichtet werden. Wer hier eine intuitio-
nistische Interpretation des nous als eines spezifisch auf die Prinzipien ausgerichte-
ten, intuitiven Erkenntnisvermögens ablehnt, scheint quasi automatisch eine empiri-
stische Interpretation zu vertreten, ohne daß damit schon hinreichend klar wäre,
welche epistemologische Funktion der Wahrnehmung hier zugeschrieben muß und
welche Form von Empirismus hier vorliegt. Auch neuere Interpretationen, die sich
gegen einen epistemologischen Fundamentalismus wenden, beantworten diese Fra-
gen nur in der Weise, daß sie Aristoteles’ Epistemologie in ihrem theoretischen
Anspruch für wenig ambitioniert erklären und somit für nur gering explikationsfähig
halten: Der Wissenserwerb besteht dann bloß in einer immer größeren intellektuel-
len Vertrautheit mit schon erworbenen Kenntnissen oder beschränkt sich auf die
bloße Konsistenzprüfung und richtige Anordnung von phainomena oder stellt einen
bloß kausalen Prozeß dar, in dem sich die Kenntnis der Prinzipien auf natürliche
Weise aus der Wahrnehmung und dem Gedächtnis heraus entwickelt. Die vorlie-
gende Studie arbeitet in einer zusammenhängenden Interpretation zentraler Passa-
gen die Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb genauer heraus und versucht auf
diesem Weg zu einem besseren Verständnis von Aristoteles’Epistemologie im ganzen
beizutragen. Nach einer kurzen Darstellung der Aristotelischen Theorie des Wissens
und der bisherigen Interpretationen wird zunächst anhand zentraler Passagen aus De
WALTER-WITZE NM ANN-PREIS
STEPHAN HERZBERG:
„Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles“
Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs wird immer wieder gerne als empiristisch
charakterisiert. Dafür scheinen nicht nur einige programmatische Passagen zu spre-
chen, in denen Aristoteles die zentrale Bedeutung der Wahrnehmung für den Erwerb
demonstrativen Wissens (episteme) betont (vgl. An. Post. I 18, 81a38f.; De an. III 8,
432a7f.). Auch die grundsätzliche Annahme, daß der Intellekt über keine angebore-
nen und unbewußt vorliegenden Wissensinhalte verfügt, scheint auf eine empiristi-
sche Epistemologie hinauszulaufen: Die für das demonstrative Wissen konstitutive
Kenntnis der Prinzipien wird nach Aristoteles allein auf der Basis der Wahrnehmung
als einem unterscheidungsfähigen Vermögen erworben (An. Post. II 19). Auf der
anderen Seite betont Aristoteles im Hinblick auf das demonstrative Wissen auch die
Grenzen der Wahrnehmung (An. Post. I 31, 87b28). Das Problem ist nun, wie all
diese Aussagen genauer zu verstehen sind und was sich daraus für die epistemologi-
sche Funktion der Wahrnehmung im ganzen ergibt: Was trägt die Wahrnehmung
zum Wissenserwerb bei? In welcher Weise arbeitet sie mit dem Intellekt zusammen?
Bildet die Wahrnehmung die rechtfertigende Basis, auf die sich unser ganzes Wissen
begründend zurückführen läßt? Oder hat die Wahrnehmung bloß die kausale Funk-
tion, unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen zu versorgen?
Diese Fragen wurden bisher vor allem anhand des Schlußkapitels der Zweiten Analy-
tiken behandelt; umstritten ist hier, wie der bei der Wahrnehmung ansetzende induk-
tive Vorgang (epagöge) und der Intellekt (rums') jeweils verstanden und im Hinblick
auf die Prinzipien-Erkenntnis zueinander gewichtet werden. Wer hier eine intuitio-
nistische Interpretation des nous als eines spezifisch auf die Prinzipien ausgerichte-
ten, intuitiven Erkenntnisvermögens ablehnt, scheint quasi automatisch eine empiri-
stische Interpretation zu vertreten, ohne daß damit schon hinreichend klar wäre,
welche epistemologische Funktion der Wahrnehmung hier zugeschrieben muß und
welche Form von Empirismus hier vorliegt. Auch neuere Interpretationen, die sich
gegen einen epistemologischen Fundamentalismus wenden, beantworten diese Fra-
gen nur in der Weise, daß sie Aristoteles’ Epistemologie in ihrem theoretischen
Anspruch für wenig ambitioniert erklären und somit für nur gering explikationsfähig
halten: Der Wissenserwerb besteht dann bloß in einer immer größeren intellektuel-
len Vertrautheit mit schon erworbenen Kenntnissen oder beschränkt sich auf die
bloße Konsistenzprüfung und richtige Anordnung von phainomena oder stellt einen
bloß kausalen Prozeß dar, in dem sich die Kenntnis der Prinzipien auf natürliche
Weise aus der Wahrnehmung und dem Gedächtnis heraus entwickelt. Die vorlie-
gende Studie arbeitet in einer zusammenhängenden Interpretation zentraler Passa-
gen die Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb genauer heraus und versucht auf
diesem Weg zu einem besseren Verständnis von Aristoteles’Epistemologie im ganzen
beizutragen. Nach einer kurzen Darstellung der Aristotelischen Theorie des Wissens
und der bisherigen Interpretationen wird zunächst anhand zentraler Passagen aus De