26. Oktober 2012
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und verborgenen Botschaften, Subtexten, Tonfällen und all dem, was dem flüchti-
gen Moment geschuldet ist und sich nicht perpetuieren lässt. Was der Komponist
aus dem Text machte, konnte das Ausgesprochene bestätigen und verstärken, aber
auch das Unausgesprochene durch die Musik hörbar machen. Die Musik konnte
dem Text zustimmen, aber sie konnte ihm auch widersprechen. Und die Aktion
konnte dasselbe mit der Komposition machen. Damit dies möglich wurde, bedurfte
es jeweils eines Vokabulars, das auch das Publikum beherrschte und deshalb mit-
vollziehen konnte. Für die Textvokabeln, die Schlüsselwörter der Leidenschaften,
gab es eine lange Tradition der Librettistik; wie ein Komponist damit umging,
war freilich offen; indem er sich für eine Möglichkeit der Vertonung entschied,
schloss er unzählige andere Möglichkeiten, die derselbe Text ihm auch noch gebo-
ten hätte, aus.
Auch für die Musik gab es ein weitgehend verbindliches Vokabular — musika-
lische Chiffren, die die Erkenntnis leiteten, wie diese Musik zu verstehen sei: lang-
sames oder schnelles Tempo, Dur und Moll, Tanzrhythmen, Tonarten und so fort.
Konnte man, wie Händel über die Jahrzehnte hinweg, mit einem annähernd gleich
bleibenden Publikum rechnen, so konnte man dieses Publikum auch eine eigene,
individuelle Sprache lehren. Händel nutzte diese Möglichkeit weit über seine Opern
hinaus bis in seine letzten Oratorien hinein.
Und schließlich gab es die Sprache der Gesten, die jeder, der eine halbwegs
formale Erziehung genossen hatte, beherrschte — die Bedeutung von rechts und
links, von oben und unten, von Blicken, Handbewegungen, Fußstellungen, wie sie
auf der Grundlage zahlreicher Lehrbücher unterrichtet wurden und anschaulich
vermitteln, wie man sich die Bühnendarstellung vorzustellen hat. Körperhaltung,
Blickbewegung — all das steuerte die visuelle Interpretation einer Arie, die ihrerseits
die musikalische Interpretation eines Textes darstellte. Das alles aber konnte in affir-
mativer Weise geschehen wie in subversiverWeise, wie sich an einem einfachen Satz
wie „Ich liebe dich“ erläutern lässt. Dieser Satz könnte wahr oder gelogen sein, frei-
willig oder gezwungenermaßen ausgesprochen werden. Ein Komponist könnte etwa
durch die Wahl der Tonart — helles C-Dur oder düsteres c-Moll, durch hohe oder
tiefe Lage — den Zuhörern verraten, wie der handelnden Person wirklich zumute ist.
Und ein Sänger könnte durch seine Gesten seinen Worten eine eigene Interpreta-
tion geben. Würde er bei den Worten „ich liebe dich“ den rechten Arm heben, so
wäre dies eine Bestätigung, eine Intensivierung des Gesagten. Würde er dagegen
dieselben Worte zu derselben Musik mit einer Geste der linken, abwärts weisenden
Hand begleiten, so würde er seinen eigenen Worten widersprechen und deutlich
machen, dass er entweder lügt oder dass sich ein furchtbares Geheimnis hinter
diesem Satz verbirgt. Das Beispiel zeigt in all seiner Simplizität, wie komplex das
Geflecht von Text, Musik und Aktion ist; dass sich erst in der Kombination aller drei
Sprachen die in dieser Situation gemeinte Leidenschaft artikulieren kann; dass jede
der drei Sprachen für sich genommen uneindeutig ist, in der Summe aber unmiss-
verständlich werden kann. Vieles von dem, was Händel seinen Rollen in den Mund
legte, war nicht nur Ausdruck innerer Bewegung, sondern darüber hinaus ein Fin-
gerzeig für die Zuschauer zum besseren Verständnis dessen, was da auf der Bühne
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und verborgenen Botschaften, Subtexten, Tonfällen und all dem, was dem flüchti-
gen Moment geschuldet ist und sich nicht perpetuieren lässt. Was der Komponist
aus dem Text machte, konnte das Ausgesprochene bestätigen und verstärken, aber
auch das Unausgesprochene durch die Musik hörbar machen. Die Musik konnte
dem Text zustimmen, aber sie konnte ihm auch widersprechen. Und die Aktion
konnte dasselbe mit der Komposition machen. Damit dies möglich wurde, bedurfte
es jeweils eines Vokabulars, das auch das Publikum beherrschte und deshalb mit-
vollziehen konnte. Für die Textvokabeln, die Schlüsselwörter der Leidenschaften,
gab es eine lange Tradition der Librettistik; wie ein Komponist damit umging,
war freilich offen; indem er sich für eine Möglichkeit der Vertonung entschied,
schloss er unzählige andere Möglichkeiten, die derselbe Text ihm auch noch gebo-
ten hätte, aus.
Auch für die Musik gab es ein weitgehend verbindliches Vokabular — musika-
lische Chiffren, die die Erkenntnis leiteten, wie diese Musik zu verstehen sei: lang-
sames oder schnelles Tempo, Dur und Moll, Tanzrhythmen, Tonarten und so fort.
Konnte man, wie Händel über die Jahrzehnte hinweg, mit einem annähernd gleich
bleibenden Publikum rechnen, so konnte man dieses Publikum auch eine eigene,
individuelle Sprache lehren. Händel nutzte diese Möglichkeit weit über seine Opern
hinaus bis in seine letzten Oratorien hinein.
Und schließlich gab es die Sprache der Gesten, die jeder, der eine halbwegs
formale Erziehung genossen hatte, beherrschte — die Bedeutung von rechts und
links, von oben und unten, von Blicken, Handbewegungen, Fußstellungen, wie sie
auf der Grundlage zahlreicher Lehrbücher unterrichtet wurden und anschaulich
vermitteln, wie man sich die Bühnendarstellung vorzustellen hat. Körperhaltung,
Blickbewegung — all das steuerte die visuelle Interpretation einer Arie, die ihrerseits
die musikalische Interpretation eines Textes darstellte. Das alles aber konnte in affir-
mativer Weise geschehen wie in subversiverWeise, wie sich an einem einfachen Satz
wie „Ich liebe dich“ erläutern lässt. Dieser Satz könnte wahr oder gelogen sein, frei-
willig oder gezwungenermaßen ausgesprochen werden. Ein Komponist könnte etwa
durch die Wahl der Tonart — helles C-Dur oder düsteres c-Moll, durch hohe oder
tiefe Lage — den Zuhörern verraten, wie der handelnden Person wirklich zumute ist.
Und ein Sänger könnte durch seine Gesten seinen Worten eine eigene Interpreta-
tion geben. Würde er bei den Worten „ich liebe dich“ den rechten Arm heben, so
wäre dies eine Bestätigung, eine Intensivierung des Gesagten. Würde er dagegen
dieselben Worte zu derselben Musik mit einer Geste der linken, abwärts weisenden
Hand begleiten, so würde er seinen eigenen Worten widersprechen und deutlich
machen, dass er entweder lügt oder dass sich ein furchtbares Geheimnis hinter
diesem Satz verbirgt. Das Beispiel zeigt in all seiner Simplizität, wie komplex das
Geflecht von Text, Musik und Aktion ist; dass sich erst in der Kombination aller drei
Sprachen die in dieser Situation gemeinte Leidenschaft artikulieren kann; dass jede
der drei Sprachen für sich genommen uneindeutig ist, in der Summe aber unmiss-
verständlich werden kann. Vieles von dem, was Händel seinen Rollen in den Mund
legte, war nicht nur Ausdruck innerer Bewegung, sondern darüber hinaus ein Fin-
gerzeig für die Zuschauer zum besseren Verständnis dessen, was da auf der Bühne