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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Schmidt, Jochen: Gerhard Kaiser (2.9.1927 – 2.8.2012)
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0157
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NACHRUFE

Ehrendoktors. Im Jahr 2000 erhielt er die Goldene Medaille der Internationalen
Goethe-Gesellschaft Weimar.
Gerhard Kaiser war einer der produktivsten und renommiertesten Germani-
sten. Seine Forschungsgebiete erstreckten sich von der Barock-Literatur über die
Sturm- und Drang-Epoche, die Weimarer Klassik, Werk und Leben Gottfried Kellers
und die klassische Moderne bis zur Gegenwartsliteratur. Ein hervorstechender Zug
war die Überzeugungskraft, mit der er Literatur als in Lebenserfahrungen wurzelnde
Form einer Geisteskultur verstand, die zwar in Zeitbezüge eingebettet ist, aber doch
immer auch den Menschen unmittelbar angeht. Daher verband sich bei ihm die
Fähigkeit zu erhellender wissenschaftlicher Analyse, die er engagiert vorantrieb, mit
einer persönlich gestimmten Intensität, die ihn auch zu einem wirkungsmächtigen
Universitätslehrer machte. Intellektuelle Kraft und hohe geistige Präsenz zeichneten
Gerhard Kaiser ebenso aus wie ein sensibler Spürsinn für die ästhetischen Qualitä-
ten der Dichtung. Er stellte sich aber auch den hteraturtheoretischen Diskussionen,
die seit den Sechzigerjahren die Traditionen der Literaturwissenschaften aufbrachen.
Insbesondere die Kritische Theorie, die Psychoanalyse und den Poststrukturalismus
nahm er als Fierausforderungen zu kritischer Auseinandersetzung. Er spitzte sie bis
zu programmatischen Antithesen zu, begriff sie aber auch als ein neu sich
erschließendes Potential, das die Wahrnehmungsfähigkeit erweitern konnte. Wie
kaum ein anderer vermochte Gerhard Kaiser durch brillante Formulierungskunst
seine Leser und seine Hörer zu faszinieren. In späteren Jahren reflektierte er die eige-
ne, an Wandlungen reiche intellektuelle Biographie, um sich selbst Rechenschaft zu
geben. Ein Grundstrom aber trug ihn von der Zeit seiner Dissertation und seiner
Habilitation an bis zuletzt: das Interesse für die Transformationen religiöser Vorstel-
lungen in der modernen Welt. Deshalb bildete die Analyse von Phänomenen der
Säkularisierung in der Literatur eines seiner fruchtbarsten Forschungs-Gebiete. In
seinem letzten Lebensjahrzehnt trat immer deutlicher ein bekenntnishaft christlicher
Zug hervor.
Aus Gerhard Kaisers vielfältigem und umfangreichem wissenschaftlichen
Oeuvre seien hier nur die markantesten Bücher und Themen genannt. Sowohl seine
Dissertation wie seine Habilitationsschrift sind bis heute maßstabbildende Werke
geblieben: die historisch angelegte Dissertation Pietismus und Patriotismus im literari-
schen Deutschland und die Habilitationsschrift Klopstock: Religion und Dichtung. Es
folgte eine Geschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zum Sturm und
Drang: 1730—1785. Erstmals erschien sie 1966 und sie erwies sich bald als eines der
besten Studienbücher. Noch 2007 erlebte Kaiser eine 7. Auflage. Eine ganze Reihe
von Schiller-Publikationen eröffnete das Buch Vergötterung und Tod. Die thematische
Einheit von Schillers Werk (1967). Nach mehreren Studien, die von den Erschütterun-
gen der 68er Revolution zeugen und auch ein Buch über Benjamin und Adorno
einschlossen, wandte sich Kaiser in den Achtziger Jahren dem Werk Gottfried Kel-
lers in mehreren Büchern zu, in denen er sich von neugewonnenen psychoanalyti-
schen Fragestellungen leiten ließ. Eine auch für ein größeres Publikum höchst anre-
gende, ja illuminierende Lektüre bot das zwischen 1987 und 1991 in vier Auflagen
erschienene Insel-Taschenbuch Augenblicke deutscher Lyrik: Gedichte von Martin
 
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