25. Mai 2013
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PAUL KIRCHHOF HÄLT DEN FESTVORTRAG:
„DER AUFTRAG DER AKADEMIE IN ZEITEN KULTURELLEN UMBRUCHS"
I. Distanz zur Umtriebigkeit
Wenn wir heute nach dem Auftrag einer Akademie der Wissenschaften fragen, so
mögen wir uns zunächst erinnern, dass Platon seine Schüler im Hain des Akademos
versammelte, fernab der politisch und wirtschaftlich aufgeregten Stadt Athen, um
Distanz zu deren Umtriebigkeit zu gewinnen, von den Zwängen des alltäglichen
Bedarfs unabhängig zu sein. Die Akademie wollte selbstbestimmt, autonom eigene
Regeln setzen, über die Fähigkeit zu erkennen, über die Voraussetzungen für ein
gutes Gemeinschaftsleben, über „Idee“ und „Zahl“ nachdenken. Und Humboldt
sagte 1810 über sein Reformvorhaben: „Wir sind dem Alltag entrückt“, meinte
damit nicht eine Weltvergessenheit oder Weltfremdheit, sondern suchte unsere Welt
besser zu erfahren und zu ergründen, als wir es im alltäglichen Leben können.
Als die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909 gegründet wurde,
hatte sich die Vorstellung von der zweckfreien Forschung durchgesetzt. Doch die
Ziele der Akademie sind klar umgrenzt. Die Heidelberger Akademie ist die erste im
20. Jahrhundert gegründete und versteht sich deshalb als „moderne Akademie“,
die Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften verbindet, sich ausdrücklich -
1909 — den neuen sozialen und gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart wid-
met, die „Existenzbedingung und Kulturbedeutung“ der „lebendigen Mächte der
Gegenwart“ untersucht. Der Austausch unter Wissenschaftlern soll das Wissen und
Denken für andere Forschungsbereiche weiten, „das Gemeinsame der gewonnenen
Resultate zum Bewusstsein“ bringen. Die Mittel der Akademie sollen vor allem den
jüngeren Wissenschaftlern zu Gute kommen.
Eine Akademie ist eine Gemeinschaft von unbefangenen, allein aus wissen-
schaftlichem Antrieb tätigen, ehrenamtlich wirkenden Wissenschaftlern, denen der
Staat einen Ort des Dialogs und Forschens zur Verfügung stellt, an dem die Mitglie-
der die heutige Welt ermessen, erfahren, begreifen, ergründen, verstehen und
erklären wollen. Sie setzen die aufklärende, wissenerschließende Kraft der Rationa-
lität ein, wollen ihr Handeln für die Gesellschaft nutzen und vor der Gesellschaft ver-
antworten.
II. Orientierung in Zeiten des Umbruchs
(1.) Die Akademie pflegt ihre Wissenschaft heute in einer Phase des Umbruchs, in
der die Menschen Halt, Maßstab, Selbstgewissheit suchen. Unsere Gegenwart läuft
Gefahr, einen wesentlichen Teil menschlicher Kulturleistungen zu verlieren.
Wenn ich die Geschichte unserer Kultur richtig verstehe, entwickeln sich
Hochkulturen, wenn Menschen über die bloße Bedarfsbefriedigung hinausgreifen
und sinnstiftend denken. Die Religion verheißt ein gutes Leben in Verantwortung
vor Gott, die Philosophie lehrt Angstfreiheit, erklärt die Endlichkeit des Menschen,
gibt Selbstsicherheit, pflegt Gelassenheit, fordert Rationalität. Die Geschichte bietet
Bilder und Vorbilder. Das Recht entwickelt Vorstellungen von der Gleichheit jedes
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PAUL KIRCHHOF HÄLT DEN FESTVORTRAG:
„DER AUFTRAG DER AKADEMIE IN ZEITEN KULTURELLEN UMBRUCHS"
I. Distanz zur Umtriebigkeit
Wenn wir heute nach dem Auftrag einer Akademie der Wissenschaften fragen, so
mögen wir uns zunächst erinnern, dass Platon seine Schüler im Hain des Akademos
versammelte, fernab der politisch und wirtschaftlich aufgeregten Stadt Athen, um
Distanz zu deren Umtriebigkeit zu gewinnen, von den Zwängen des alltäglichen
Bedarfs unabhängig zu sein. Die Akademie wollte selbstbestimmt, autonom eigene
Regeln setzen, über die Fähigkeit zu erkennen, über die Voraussetzungen für ein
gutes Gemeinschaftsleben, über „Idee“ und „Zahl“ nachdenken. Und Humboldt
sagte 1810 über sein Reformvorhaben: „Wir sind dem Alltag entrückt“, meinte
damit nicht eine Weltvergessenheit oder Weltfremdheit, sondern suchte unsere Welt
besser zu erfahren und zu ergründen, als wir es im alltäglichen Leben können.
Als die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909 gegründet wurde,
hatte sich die Vorstellung von der zweckfreien Forschung durchgesetzt. Doch die
Ziele der Akademie sind klar umgrenzt. Die Heidelberger Akademie ist die erste im
20. Jahrhundert gegründete und versteht sich deshalb als „moderne Akademie“,
die Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften verbindet, sich ausdrücklich -
1909 — den neuen sozialen und gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart wid-
met, die „Existenzbedingung und Kulturbedeutung“ der „lebendigen Mächte der
Gegenwart“ untersucht. Der Austausch unter Wissenschaftlern soll das Wissen und
Denken für andere Forschungsbereiche weiten, „das Gemeinsame der gewonnenen
Resultate zum Bewusstsein“ bringen. Die Mittel der Akademie sollen vor allem den
jüngeren Wissenschaftlern zu Gute kommen.
Eine Akademie ist eine Gemeinschaft von unbefangenen, allein aus wissen-
schaftlichem Antrieb tätigen, ehrenamtlich wirkenden Wissenschaftlern, denen der
Staat einen Ort des Dialogs und Forschens zur Verfügung stellt, an dem die Mitglie-
der die heutige Welt ermessen, erfahren, begreifen, ergründen, verstehen und
erklären wollen. Sie setzen die aufklärende, wissenerschließende Kraft der Rationa-
lität ein, wollen ihr Handeln für die Gesellschaft nutzen und vor der Gesellschaft ver-
antworten.
II. Orientierung in Zeiten des Umbruchs
(1.) Die Akademie pflegt ihre Wissenschaft heute in einer Phase des Umbruchs, in
der die Menschen Halt, Maßstab, Selbstgewissheit suchen. Unsere Gegenwart läuft
Gefahr, einen wesentlichen Teil menschlicher Kulturleistungen zu verlieren.
Wenn ich die Geschichte unserer Kultur richtig verstehe, entwickeln sich
Hochkulturen, wenn Menschen über die bloße Bedarfsbefriedigung hinausgreifen
und sinnstiftend denken. Die Religion verheißt ein gutes Leben in Verantwortung
vor Gott, die Philosophie lehrt Angstfreiheit, erklärt die Endlichkeit des Menschen,
gibt Selbstsicherheit, pflegt Gelassenheit, fordert Rationalität. Die Geschichte bietet
Bilder und Vorbilder. Das Recht entwickelt Vorstellungen von der Gleichheit jedes