Annette Gerok-Reiter
187
Antrittsrede von Frau ANNETTE GEROK-REITER
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 26. Oktober 2013.
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wo schreibt man sich her? Der wohl am weitesten ver-
breitete Hinweis auf meine Familie findet sich in den
Buddenbrooks von Thomas Mann. Dort heißt es vom
kleinen Hanno, der die Adventsstimmung erlebt:
„Dann, wenige Tage später, nachmittags im Wohnzim-
mer, als Papa mit der Zeitung auf der Chaiselongue lag
und Hanno grade in Gerocks ‘Palmblättern’ das
Gedicht von der Hexe von Endor las ....“ (VIII,8). Bei
den „Palmblättern“ von Karl Gerok, Oberhofprediger
und Prälat in Stuttgart, handelt es sich um ein Kompendium vor allem religiös
erbauender Gedichte, die vor und nach 1900 nicht nur eine Art Geschenkbestseller
zum Anlass der Konfirmation im Schwäbischen gewesen waren, sondern auch ihren
Weg in den Norden gefunden hatten. Doch Theologin bin ich nicht geworden und
Erbauungsliteratur gehört zu jenen Gegenständen, die ich hartnäckig meide.
Wo schreibt man sich her? Näherliegend wäre es daher wohl, statt auf den
Urahn auf mein direktes Elternhaus zu verweisen, eine schwäbisch-berliner, natur-
wissenschaftlich-musische Gemengelage. Doch dann redete die Grundschule mit
und attestierte mir, quer zum genealogischen Tableau, eine dezidiert mathematische
Begabung, was dazu führte, dass ich nicht den humanistischen Zweig, sondern den
mathematisch-neusprachlichen Zweig des Gymnasiums einzuschlagen hatte — zwei-
fellos mit gravierenden Folgen. Erstens blieb mir dann nichts anders übrig, als Latein
und Griechisch fakultativ in Schule und Studium nachzuholen. Zweitens mussten
meine zwei Söhne, die heute fast volljährig sind, auf jeden Fall mit Latein ihre Gym-
nasialzeit beginnen — nicht nur zu ihrer Freude. Und drittens konnte ich rasch ler-
nen, dass die wesentlichen Dinge des Lebens sich oftmals jenseits von wahr und
falsch, zutreffend oder nicht zutreffend abspielen. Denn dass ich mathematische Nei-
gungen hatte, traf zwar zu, doch als mein eigentliches Gelände entdeckte ich das, was
zwischen humanistisch-altsprachlichem und mathematisch-neusprachlichem Zweig
keinen Namen hatte: die Schönheiten, die Irritationen, die weiten Wege der deut-
schen Sprache in ihren literarischen Formationen. Als Preis für die besten Leistun-
gen in Deutsch erhielt ich zum Abitur ein kleines Manesse-Bändchen, weiß mit
leuchtend gelbem Querstreifen: Rilkes Sonette an Orpheus. Das Bändchen beglei-
tete mich im Rucksack auf die Abitursreise zu den Kykladen. Und es sei dahinge-
stellt: Ob es die griechische Sonne, die Sprache Rilkes oder die neue Freiheit oder
alles zusammen war: Affiziert von den Rhythmen, den Klängen und Sprachfiguren
dieses kleinen Werks trat ich in Tübingen mein Gemanistikstudium an mit der Frage,
wie eine einfache Ansammlung von Buchstaben so sehr zu faszinieren vermöge,
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Antrittsrede von Frau ANNETTE GEROK-REITER
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 26. Oktober 2013.
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wo schreibt man sich her? Der wohl am weitesten ver-
breitete Hinweis auf meine Familie findet sich in den
Buddenbrooks von Thomas Mann. Dort heißt es vom
kleinen Hanno, der die Adventsstimmung erlebt:
„Dann, wenige Tage später, nachmittags im Wohnzim-
mer, als Papa mit der Zeitung auf der Chaiselongue lag
und Hanno grade in Gerocks ‘Palmblättern’ das
Gedicht von der Hexe von Endor las ....“ (VIII,8). Bei
den „Palmblättern“ von Karl Gerok, Oberhofprediger
und Prälat in Stuttgart, handelt es sich um ein Kompendium vor allem religiös
erbauender Gedichte, die vor und nach 1900 nicht nur eine Art Geschenkbestseller
zum Anlass der Konfirmation im Schwäbischen gewesen waren, sondern auch ihren
Weg in den Norden gefunden hatten. Doch Theologin bin ich nicht geworden und
Erbauungsliteratur gehört zu jenen Gegenständen, die ich hartnäckig meide.
Wo schreibt man sich her? Näherliegend wäre es daher wohl, statt auf den
Urahn auf mein direktes Elternhaus zu verweisen, eine schwäbisch-berliner, natur-
wissenschaftlich-musische Gemengelage. Doch dann redete die Grundschule mit
und attestierte mir, quer zum genealogischen Tableau, eine dezidiert mathematische
Begabung, was dazu führte, dass ich nicht den humanistischen Zweig, sondern den
mathematisch-neusprachlichen Zweig des Gymnasiums einzuschlagen hatte — zwei-
fellos mit gravierenden Folgen. Erstens blieb mir dann nichts anders übrig, als Latein
und Griechisch fakultativ in Schule und Studium nachzuholen. Zweitens mussten
meine zwei Söhne, die heute fast volljährig sind, auf jeden Fall mit Latein ihre Gym-
nasialzeit beginnen — nicht nur zu ihrer Freude. Und drittens konnte ich rasch ler-
nen, dass die wesentlichen Dinge des Lebens sich oftmals jenseits von wahr und
falsch, zutreffend oder nicht zutreffend abspielen. Denn dass ich mathematische Nei-
gungen hatte, traf zwar zu, doch als mein eigentliches Gelände entdeckte ich das, was
zwischen humanistisch-altsprachlichem und mathematisch-neusprachlichem Zweig
keinen Namen hatte: die Schönheiten, die Irritationen, die weiten Wege der deut-
schen Sprache in ihren literarischen Formationen. Als Preis für die besten Leistun-
gen in Deutsch erhielt ich zum Abitur ein kleines Manesse-Bändchen, weiß mit
leuchtend gelbem Querstreifen: Rilkes Sonette an Orpheus. Das Bändchen beglei-
tete mich im Rucksack auf die Abitursreise zu den Kykladen. Und es sei dahinge-
stellt: Ob es die griechische Sonne, die Sprache Rilkes oder die neue Freiheit oder
alles zusammen war: Affiziert von den Rhythmen, den Klängen und Sprachfiguren
dieses kleinen Werks trat ich in Tübingen mein Gemanistikstudium an mit der Frage,
wie eine einfache Ansammlung von Buchstaben so sehr zu faszinieren vermöge,