II. Wissenschaftliche Vorträge
Steffen Patzold
„Wie regierte Karl der Große? Zu den Kapitularien der Karolingerzeit"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 18. Juli 2014
Die sogenannten Kapitularien waren eines der wichtigsten Instrumente, mit denen
die karolingischen Könige des 8. und 9. Jahrhunderts ihr großes Reich regierten,
das sich von den Pyrenäen bis zur Elbe, von der Nordsee bis Rom erstreckte. Ka-
pitularien bilden deshalb bis heute zentrale Quellen für die Erforschung des Früh-
mittelalters. Sie werden von der Mittelalterforschung dabei traditionell über drei
Kriterien definiert: 1) Kapitularien gingen vom Herrscher aus; 2) sie waren in der
Regel in Kapitel unterteilt; 3) es handelte sich meist um normative Texte, die bis-
weilen Gesetzen ähnelten, bisweilen auch Verordnungen oder Verwaltungsakten
- und manchmal sogar eher Predigten.
Mediävisten pflegen diese Texte bis heute aus jener kritischen Edition zu zitie-
ren, die Ende des 19. Jahrhunderts Alfred Boretius und Victor Krause für die „Mo-
numenta Germaniae Historica“ geschaffen haben. Diese Edition hat allerdings das
Material der Karolingerzeit in einer eigentümlichen Weise verzerrt:
Erstens haben die Editoren „richtige“ Kapitularien von jenen nur „verwand-
ten“ Texte zu scheiden versucht, die sie dann in die Additamenta ihrer Edition
verbannten. In den Handschriften der Karolingerzeit selbst findet sich eine solche
Unterscheidung nicht. Die Zeitgenossen nannten zwar manche Texte, die Histo-
riker heute als „Kapitularien“ bezeichnen, ebenfalls schon capituluriu (so zuerst
Karls des Großen „Kapitular von Herstal“ aus dem Jahr 779). Allerdings über-
schrieben sie andere Kapitularien auch als edictum, decretum, ganz unspezifisch als
capitula oder in noch anderer Weise. Im zeitgenössischen Begriffsgebrauch deu-
tet nichts darauf hin, dass wir „Kapitularien“ überhaupt als eine fest umrissene
Gattung von Texten begreifen sollten, die sich klar von nur „verwandten“ Texten
scheiden ließe.
Zweitens haben Boretius und Krause in ihrer Edition Kapitularien in einer
spezifischen Weise präsentiert: Die Texte sind hier zunächst nach den Herrschern,
die sie „erlassen“ haben, geordnet - und dann jeweils in chronologischer Reihe
wiedergegeben. Zudem hat jedes Kapitular eine Nummer und einen lateinischen
Kunsttitel erhalten. In unserer Überlieferung aus der Karolingerzeit selbst haben
die Texte eher selten ein Datum; sie tragen keine Nummern; und sie haben in aller
Regel keinen Titel.
Drittens spiegelt die Edition des 19. Jahrhunderts mit ihrer Scheidung von
„richtigen“ Kapitularien und „verwandten“ Texten einerseits und ihrer spezifi-
schen Präsentation der Kapitularien andererseits vor, es handele sich um normati-
ve Texte, erlassen von karolingischen Königen und Kaisern. Tatsächlich ist jedoch
keine einzige Kapitelliste in der Form erhalten, in der sie vom Herrscher ausge-
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Steffen Patzold
„Wie regierte Karl der Große? Zu den Kapitularien der Karolingerzeit"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 18. Juli 2014
Die sogenannten Kapitularien waren eines der wichtigsten Instrumente, mit denen
die karolingischen Könige des 8. und 9. Jahrhunderts ihr großes Reich regierten,
das sich von den Pyrenäen bis zur Elbe, von der Nordsee bis Rom erstreckte. Ka-
pitularien bilden deshalb bis heute zentrale Quellen für die Erforschung des Früh-
mittelalters. Sie werden von der Mittelalterforschung dabei traditionell über drei
Kriterien definiert: 1) Kapitularien gingen vom Herrscher aus; 2) sie waren in der
Regel in Kapitel unterteilt; 3) es handelte sich meist um normative Texte, die bis-
weilen Gesetzen ähnelten, bisweilen auch Verordnungen oder Verwaltungsakten
- und manchmal sogar eher Predigten.
Mediävisten pflegen diese Texte bis heute aus jener kritischen Edition zu zitie-
ren, die Ende des 19. Jahrhunderts Alfred Boretius und Victor Krause für die „Mo-
numenta Germaniae Historica“ geschaffen haben. Diese Edition hat allerdings das
Material der Karolingerzeit in einer eigentümlichen Weise verzerrt:
Erstens haben die Editoren „richtige“ Kapitularien von jenen nur „verwand-
ten“ Texte zu scheiden versucht, die sie dann in die Additamenta ihrer Edition
verbannten. In den Handschriften der Karolingerzeit selbst findet sich eine solche
Unterscheidung nicht. Die Zeitgenossen nannten zwar manche Texte, die Histo-
riker heute als „Kapitularien“ bezeichnen, ebenfalls schon capituluriu (so zuerst
Karls des Großen „Kapitular von Herstal“ aus dem Jahr 779). Allerdings über-
schrieben sie andere Kapitularien auch als edictum, decretum, ganz unspezifisch als
capitula oder in noch anderer Weise. Im zeitgenössischen Begriffsgebrauch deu-
tet nichts darauf hin, dass wir „Kapitularien“ überhaupt als eine fest umrissene
Gattung von Texten begreifen sollten, die sich klar von nur „verwandten“ Texten
scheiden ließe.
Zweitens haben Boretius und Krause in ihrer Edition Kapitularien in einer
spezifischen Weise präsentiert: Die Texte sind hier zunächst nach den Herrschern,
die sie „erlassen“ haben, geordnet - und dann jeweils in chronologischer Reihe
wiedergegeben. Zudem hat jedes Kapitular eine Nummer und einen lateinischen
Kunsttitel erhalten. In unserer Überlieferung aus der Karolingerzeit selbst haben
die Texte eher selten ein Datum; sie tragen keine Nummern; und sie haben in aller
Regel keinen Titel.
Drittens spiegelt die Edition des 19. Jahrhunderts mit ihrer Scheidung von
„richtigen“ Kapitularien und „verwandten“ Texten einerseits und ihrer spezifi-
schen Präsentation der Kapitularien andererseits vor, es handele sich um normati-
ve Texte, erlassen von karolingischen Königen und Kaisern. Tatsächlich ist jedoch
keine einzige Kapitelliste in der Form erhalten, in der sie vom Herrscher ausge-
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