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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Esch, Arnold: Große Geschichte und kleines Leben. Wie Menschen in historischen Quellen zu Wort kommen: Akademievorlesung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0113
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Akademievorlesung von Arnold Esch

Sterbehilfe. Da schildert, in erschütternden Worten, ein spanischer Priester, wie
seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes allmählich abgleitet in die Demenz und
endlich in den Selbstmord (und darum kein kirchliches Begräbnis erhält: das zu
erwirken ist der Anlass dieses Gesuchs). Er berichtet:
„Seine Mutter Agneta wurde nach dem Tode ihres Mannes aus tiefer Trauer
und aus Verzweiflung kindisch und verlor den Verstand (pro nimia tristicia et merrore
effecta fuit fatua et insensata). Manchmal, wenn sie an solcher Verwirrung litt, ver-
ließ sie das Haus und alles, lief hin und her durch Berg und Feld ohne ein Ziel
oder Ruhe zu finden. Dann wieder war sie bei Sinnen, empfand tiefen Kummer
über ihre Verwirrtheit, nahm in tiefer Andacht an Gottesdienst und Predigten teil,
beichtete ihre Sünden nicht anders als andere Christen auch, suchte Santiago de
Compostela auf - eines Tages endlich, als Agneta wieder so einen Anfall hatte, er-
hängte sie sich mit einem Strick“.
Oder da bekennt ein portugiesischer Mönch, er habe, als er einen pestkranken
Freund im Todeskampf liegen sah, bei sich gesagt:
„»Wären wir beide in einem Haus wo mich keiner sähe, würde ich meine
Hand auf Deinen Mund drücken und Deine schlimmen Schmerzen abkürzen!«
Als das der Krankenpfleger des Klosters hörte, sagte er sofort: »Wenn Ihr wollt, dass
er schnell stirbt, dann ziehen wir ihm doch das Kopfkissen weg und legen seinen
Kopf auf den Boden«. Das taten sie, und der Kranke starb sofort“.
Welche andere Quelle würde uns so etwas erzählen? Wir geraten auf ei-
ne Mikro-Ebene, auf der in Einzelschicksalen Verhaltensweisen, Vorstellungen,
Rechtfertigungen erkennbar werden, die ihrerseits für die Erklärung von Makro-
Phänomenen - für die Erklärung einer Kultur - wichtig sind. Und das, solange sie
noch individuelle Schicksale sind, also bevor diese Einzelschicksale zusammen-
schießen zu einem generalisierten Mittelalter-Bild, das zu zeichnen mit normativen
Quellen leichter ist. Denn normative Quellen sagen, wie es damals hätte sein sollen.
Die Pönitentiarie-Suppliken hingegen sagen in tausend Einzelschicksalen, wie es
damals wirklich war, und wie man sich tatsächlich verhielt. Nicht wie man einen
foltert, sondern wie ich einen folterte, und was der sagte.
Oder da wird uns Liebeszauber geschildert (die Hand eines Erhängten am
Galgen abgeschnitten öffnet jede Tür, auch die zur Geliebten) und die eigenen
Hexenritte (doch kennt man das auch aus Hexenverhören). Da klagen venezia-
nische Frauen beim Papst, wenn sie Kopfputz und Schuhabsätze nur in der von
ihrem Bischof vorgeschriebenen Höhe tragen dürften, dann wirkten sie so klein,
dass sie keinen passenden Ehemann finden würden; ja eine Französin begründet,
warum sie die gelobte Wallfahrt nach Santiago de Compostela nicht machen kön-
ne, in wirklich entwaffnender Weise damit, sie sei inzwischen „so dick und fett“
(pinguis etgrossa) geworden, dass sie weder gehen noch reiten könne! Und die Un-
fälle bei Spiel und Sport. Der spanische Stier, der von der Stierhatz gepeinigt in die
nächste Kirche stürmt und dort den Priester auf die Hörner nimmt. Die Kinder,

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