Akademievorlesung von Arnold Esch
Historiker später vielleicht als unerheblich weggewischt werden, Datenhorizonte
vielleicht nur einer Generation - so wie man in meiner Generation sagte: „Vor der
Währung“, „vor der Mauer“, und jeder wusste was gemeint war. Das sind histori-
sche Zäsuren empfunden und nicht nur im Nachhinein vom Historiker zugeteilt.
Und die sollten wir aus dem Munde einfacher Menschen sammeln, sollten Ge-
schichte auch in empfundenen Menschenaltern und nicht nur in konstruierten
Zeitaltern sehen.
Man könnte, um in diesem Sinne die Bezugnahme einfacher Menschen auf
den Gang der Geschichte und womöglich ihre Vorstellung von historischem Wan-
del weiter zu erkunden, noch das Motiv des Zeitsprungs in Sage, Märchen, Legen-
de einbeziehen. Ein Mensch schläft ein, wird aus seiner Zeit entrückt, wacht erst
nach 200, 300 Jahren wieder auf - und erkennt nach einer Weile mit Schrecken,
dass es gar nicht mehr seine Zeit ist. Der Historiker fragt sich: aber woran erkennt
er denn, dass er nicht nur die vermeintlich eine Nacht geschlafen habe, sondern
historischen Wandel verschlafen habe? Woran lassen diese Erzählungen denn ein-
fache Menschen erkennen, dass sie aus ihrer historischen Gegenwart herausgefal-
len sind? Daran, dass der Wiedereiwachte kein vertrautes Gesicht mehr sieht; dass
er seinen angestammten Platz von einem anderen besetzt findet; dass seine Mün-
zen als längst verfallen zurückgewiesen werden, und ähnlich elementare - und
doch historische - Indizien. Und dieser Zeit-Schock wird so existentiell erlebt,
dass ihn in diesen Geschichten niemand überlebt.
Aber zurück zu unserer Frage nach den Quellen, in denen einfache Menschen
zu Worte kommen. Unsere Fragestellung hat nämlich noch eine andere proble-
matische Seite. Ging es bisher darum, wie gewöhnliche Menschen in historische
Quellen überhaupt erst einmal hinein kommen, so legt sich gleich noch eine zwei-
te Hürde zwischen sie und uns: diese Quelle muss dann auch erhalten bleiben bis
in unsere Tage, darf nicht verloren gehen. Das ist bei königlichen, päpstlichen,
kirchlichen Urkunden oder Chroniken natürlich eher gewährleistet als bei un-
scheinbareren Stücken. Die Chance, überliefert zu werden und so auch noch zu
uns, zum Historiker zu sprechen, ist sehr ungleich verteilt (ich habe darüber an
anderer Stelle geschrieben, darum hier nur das Notwendige). Die Überlieferungs-
Chance ist ganz asymmetrisch, und das kann - neben den bereits angedeuteten in-
stitutionellen oder sozialen Auslesekriterien - auch rein materielle, ja klimatische
Gründe haben. Wenn hier in Heidelberg ein Brief auf die Erde fällt, ist er schon
nach einem Jahr vermodert. Wenn hingegen in Ägypten um Christi Geburt ein
solcher Brief auf den Boden fällt, kommt er auch nach 2000 Jahren noch perfekt
bewahrt aus dem Sand heraus oder hat sich als Mumien-Einwickelpapier erhal-
ten (und liegt heute in vollklimatisierten Papyrus-Sammlungen in London, Berlin
oder Petersburg). So kommt es, dass Papyrus-Briefe vom Typ „Lieber Vater, ich
bin gut in Misenum angekommen“, Geburts- und Todesanzeigen, Essens-Einla-
dungen, Gedichtchen auf den Tod eines Hundes, Schreibübungen, Prostituierten-
117
Historiker später vielleicht als unerheblich weggewischt werden, Datenhorizonte
vielleicht nur einer Generation - so wie man in meiner Generation sagte: „Vor der
Währung“, „vor der Mauer“, und jeder wusste was gemeint war. Das sind histori-
sche Zäsuren empfunden und nicht nur im Nachhinein vom Historiker zugeteilt.
Und die sollten wir aus dem Munde einfacher Menschen sammeln, sollten Ge-
schichte auch in empfundenen Menschenaltern und nicht nur in konstruierten
Zeitaltern sehen.
Man könnte, um in diesem Sinne die Bezugnahme einfacher Menschen auf
den Gang der Geschichte und womöglich ihre Vorstellung von historischem Wan-
del weiter zu erkunden, noch das Motiv des Zeitsprungs in Sage, Märchen, Legen-
de einbeziehen. Ein Mensch schläft ein, wird aus seiner Zeit entrückt, wacht erst
nach 200, 300 Jahren wieder auf - und erkennt nach einer Weile mit Schrecken,
dass es gar nicht mehr seine Zeit ist. Der Historiker fragt sich: aber woran erkennt
er denn, dass er nicht nur die vermeintlich eine Nacht geschlafen habe, sondern
historischen Wandel verschlafen habe? Woran lassen diese Erzählungen denn ein-
fache Menschen erkennen, dass sie aus ihrer historischen Gegenwart herausgefal-
len sind? Daran, dass der Wiedereiwachte kein vertrautes Gesicht mehr sieht; dass
er seinen angestammten Platz von einem anderen besetzt findet; dass seine Mün-
zen als längst verfallen zurückgewiesen werden, und ähnlich elementare - und
doch historische - Indizien. Und dieser Zeit-Schock wird so existentiell erlebt,
dass ihn in diesen Geschichten niemand überlebt.
Aber zurück zu unserer Frage nach den Quellen, in denen einfache Menschen
zu Worte kommen. Unsere Fragestellung hat nämlich noch eine andere proble-
matische Seite. Ging es bisher darum, wie gewöhnliche Menschen in historische
Quellen überhaupt erst einmal hinein kommen, so legt sich gleich noch eine zwei-
te Hürde zwischen sie und uns: diese Quelle muss dann auch erhalten bleiben bis
in unsere Tage, darf nicht verloren gehen. Das ist bei königlichen, päpstlichen,
kirchlichen Urkunden oder Chroniken natürlich eher gewährleistet als bei un-
scheinbareren Stücken. Die Chance, überliefert zu werden und so auch noch zu
uns, zum Historiker zu sprechen, ist sehr ungleich verteilt (ich habe darüber an
anderer Stelle geschrieben, darum hier nur das Notwendige). Die Überlieferungs-
Chance ist ganz asymmetrisch, und das kann - neben den bereits angedeuteten in-
stitutionellen oder sozialen Auslesekriterien - auch rein materielle, ja klimatische
Gründe haben. Wenn hier in Heidelberg ein Brief auf die Erde fällt, ist er schon
nach einem Jahr vermodert. Wenn hingegen in Ägypten um Christi Geburt ein
solcher Brief auf den Boden fällt, kommt er auch nach 2000 Jahren noch perfekt
bewahrt aus dem Sand heraus oder hat sich als Mumien-Einwickelpapier erhal-
ten (und liegt heute in vollklimatisierten Papyrus-Sammlungen in London, Berlin
oder Petersburg). So kommt es, dass Papyrus-Briefe vom Typ „Lieber Vater, ich
bin gut in Misenum angekommen“, Geburts- und Todesanzeigen, Essens-Einla-
dungen, Gedichtchen auf den Tod eines Hundes, Schreibübungen, Prostituierten-
117