Stefan Maul
Umfeld des Zweistromlandes, in der Beherrschung von Verfahren der Zeichen-
deutung einen maßgeblichen Grund für die nachhaltigen kulturellen und macht-
politischen Erfolge von Babyloniern und Assyrern sahen. Ja, die Eingeweideschau
stand darüber hinaus in dem Ruf von so großem Nutzen zu sein, dass sie die alto-
rientalischen Kulturen noch weit überdauerte.
Auch im klassischen und hellenistischen Griechenland, in Etrurien und in
Rom gelangte die altorientalische Kunst der Opferschau zu höchstem Ansehen.
Sie überlebte dort nicht nur die politische Eigenständigkeit des alten Zweistrom-
landes sondern auch die gesamte Keilschriftkultur. Erst das von Kaiser Konstantin
im Jahr 357 n. Chr. ausgesprochene Verbot des ,heidnischen4 Tieropfers brach mit
der Jahrtausende währenden Tradition der altorientalischen Opferschau. Das De-
kret des Kaisers wurde von Konstantins Sohn Constantius IE erneuert und im Jahr
392 n. Chr. auch von Kaiser Theodosius I. bekräftigt.
Dem Versuch Kaiser Julians, in seiner nur kurzen Regierungszeit (360-363
n. Chr.) das von Konstantin privilegierte Christentum zurückzudrängen, die alten
Kulte wiedereinzurichten und dabei auch der Opferschau wieder zu ihren tradi-
tionellen Ehren zu verhelfen, war zwar kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Ein
Beschluss des vierten Konzils von Toledo aus dem Jahr 633 n. Chr. zeigt aber deut-
lich, dass auch noch viele Generationen nachdem das Christentum im Römischen
Reich zur Staatsreligion erhoben worden war, die Opferschau im Alltag eine be-
achtliche Rolle gespielt haben muss. Damals sahen sich nämlich die Kirchenfürs-
ten gezwungen, sogar in den eigenen Reihen mit Amtsenthebung zu drohen, falls
Geistliche es weiterhin wagen sollten, Rat bei den Eingeweideschauern zu suchen.
Gleichwohl ließen sich die Opferschauer - ungeachtet aller Nachstellungen durch
die Christen und den kaiserlichen Dekreten zum Trotz - weiterhin nicht gänzlich
verdrängen. Denn auch Papst Gregor II. erachtete es noch hundert Jahre nach den
Beschlüssen von Toledo für notwendig, das 721 n. Chr. in Rom tagende Konzil zu
veranlassen, all jene mit einem Fluch zu belegen, die den Dienst der Opferschauer
in Anspruch nahmen. Erst im achten nachchristlichen Jahrhundert verlieren sich
die letzten Spuren der antiken Opferschau.
Grundlage der Gewissheit, mit Verfahren wie dem beschriebenen Einblick
in Zukünftiges gewinnen zu können, war die auch heute gültige Vorstellung, dass
die erfahrbare Welt Spuren einer sich entfaltenden Zukunft bereithält, die es als
solche zu erkennen und zu deuten gilt. Im Alten Orient verstand man Jede Form
der Bewegung und Veränderung in allen Bereichen des Erfahrbaren (auf der Erde
ebenso wie am gestirnten Himmel) jeweils als Teil eines ungeheuer komplexen
Vorgangs des sich Entwickelns der Welt durch die Zeit, hin zum Zukünftigen. In
der Welt, dem untrennbaren Gefüge von Irdischem und Kosmischem, stehen die-
ser Vorstellung zufolge alle wahrnehmbaren Erscheinungen, so wenig spektakulär
sie im Einzelnen sein mögen, miteinander in Verbindung, da sie alle Anteil haben
an jener Bewegung des Ganzen hin auf das Zukünftige und gemeinsam diese Be-
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Umfeld des Zweistromlandes, in der Beherrschung von Verfahren der Zeichen-
deutung einen maßgeblichen Grund für die nachhaltigen kulturellen und macht-
politischen Erfolge von Babyloniern und Assyrern sahen. Ja, die Eingeweideschau
stand darüber hinaus in dem Ruf von so großem Nutzen zu sein, dass sie die alto-
rientalischen Kulturen noch weit überdauerte.
Auch im klassischen und hellenistischen Griechenland, in Etrurien und in
Rom gelangte die altorientalische Kunst der Opferschau zu höchstem Ansehen.
Sie überlebte dort nicht nur die politische Eigenständigkeit des alten Zweistrom-
landes sondern auch die gesamte Keilschriftkultur. Erst das von Kaiser Konstantin
im Jahr 357 n. Chr. ausgesprochene Verbot des ,heidnischen4 Tieropfers brach mit
der Jahrtausende währenden Tradition der altorientalischen Opferschau. Das De-
kret des Kaisers wurde von Konstantins Sohn Constantius IE erneuert und im Jahr
392 n. Chr. auch von Kaiser Theodosius I. bekräftigt.
Dem Versuch Kaiser Julians, in seiner nur kurzen Regierungszeit (360-363
n. Chr.) das von Konstantin privilegierte Christentum zurückzudrängen, die alten
Kulte wiedereinzurichten und dabei auch der Opferschau wieder zu ihren tradi-
tionellen Ehren zu verhelfen, war zwar kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Ein
Beschluss des vierten Konzils von Toledo aus dem Jahr 633 n. Chr. zeigt aber deut-
lich, dass auch noch viele Generationen nachdem das Christentum im Römischen
Reich zur Staatsreligion erhoben worden war, die Opferschau im Alltag eine be-
achtliche Rolle gespielt haben muss. Damals sahen sich nämlich die Kirchenfürs-
ten gezwungen, sogar in den eigenen Reihen mit Amtsenthebung zu drohen, falls
Geistliche es weiterhin wagen sollten, Rat bei den Eingeweideschauern zu suchen.
Gleichwohl ließen sich die Opferschauer - ungeachtet aller Nachstellungen durch
die Christen und den kaiserlichen Dekreten zum Trotz - weiterhin nicht gänzlich
verdrängen. Denn auch Papst Gregor II. erachtete es noch hundert Jahre nach den
Beschlüssen von Toledo für notwendig, das 721 n. Chr. in Rom tagende Konzil zu
veranlassen, all jene mit einem Fluch zu belegen, die den Dienst der Opferschauer
in Anspruch nahmen. Erst im achten nachchristlichen Jahrhundert verlieren sich
die letzten Spuren der antiken Opferschau.
Grundlage der Gewissheit, mit Verfahren wie dem beschriebenen Einblick
in Zukünftiges gewinnen zu können, war die auch heute gültige Vorstellung, dass
die erfahrbare Welt Spuren einer sich entfaltenden Zukunft bereithält, die es als
solche zu erkennen und zu deuten gilt. Im Alten Orient verstand man Jede Form
der Bewegung und Veränderung in allen Bereichen des Erfahrbaren (auf der Erde
ebenso wie am gestirnten Himmel) jeweils als Teil eines ungeheuer komplexen
Vorgangs des sich Entwickelns der Welt durch die Zeit, hin zum Zukünftigen. In
der Welt, dem untrennbaren Gefüge von Irdischem und Kosmischem, stehen die-
ser Vorstellung zufolge alle wahrnehmbaren Erscheinungen, so wenig spektakulär
sie im Einzelnen sein mögen, miteinander in Verbindung, da sie alle Anteil haben
an jener Bewegung des Ganzen hin auf das Zukünftige und gemeinsam diese Be-
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