Wolfgang Raible
Fehlentwicklung abzutun. Sie erweist sich nicht nur als der Nährboden unserer
heutigen Wissenschaftskultur. In ihrem Kontext stellte sie eine ausgesprochen
wirkmächtige Institution dar, die der Zukunft eine konkrete, verhandelbare Ge-
stalt zu geben vermochte, fortwährend zum Überdenken und Überprüfen der
Gegenwartsbedingungen anhielt, erhebliche Freiräume für das besonnene Aus-
handeln wichtiger politischer Entscheidungen eröffnete und in der Lage war, ei-
nen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, um zielstrebiges Planen und Handeln
zu ermuntern. So waren es gerade die Mechanismen der altorientalischen Wahrsa-
gekünste, die dauerhaft eine sachbezogene, umsichtige Entscheidungsfindung be-
förderten und nicht unerheblich zu Erfolg und Beständigkeit der altorientalischen
Kulturen beitrugen.
In ebendieser Erkenntnis dürfte der Grund dafür zu suchen sein, dass selbst
Cicero, der den „Aberglauben (superstitw)“ der Wahrsagekünste restlos beseitigt se-
hen wollte, allen von ihm vorgebrachten Zweifeln zum Trotz empfahl, die Einge-
weideschau und andere Divinationsformen „um des Staates willen zu pflegen“.
Wolfgang Raible
„Metaphern als Denkmodelle"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 17. April 2015
Es gibt ein etwas rätselhaftes Fragment des Vorsokratikers Anaxagoras: öxpic; aöf]-
Xcov Tä (paivöpeva - die Sicht des nicht Wahrnehmbaren sind die Phänomene (also
das, was wir wahrnehmen können). Da von Anaxagoras auch überliefert ist, er sei
Arzt gewesen, wurde dies z. B. im Sinn von Symptomen einer Krankheit interpre-
tiert. Der eigentliche Sinn des Zitats wird noch deutlich werden.
Spricht man von Metaphern, so denkt der ,normale Sterbliche4 an Rhetorik,
Dichtung oder Kunstprosa. In der Rhetorik zählen Metaphern zu den Tropen.
Nach Quintilians Institutio soll es 12 davon geben. Einer der humanistischen Ge-
lehrten des 16. Jahrhunderts, Petrus Ramus (Pierre de la Ramee, 1515-1572) hat
ihre Zahl mit stringenter Logik bereits auf vier reduziert. Bei genauerem Zusehen
bleiben noch zwei davon übrig: Metapher und Metonymie - die nun allerdings
grundlegend sind nicht etwa nur für Dichtung, Rhetorik oder Prosa, sondern für
die menschliche Kognition überhaupt. Mit der Metonymie stellt man eine Bezie-
hung zwischen zwei benachbarten Bereichen her (etwa bei Teil-Ganzes-Verhält-
nissen: „Seine Mannschaft ist zwölf Köpfe stark“); mit der Metapher postuliert
man ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen zwei Bereichen, die nichts miteinander
zu tun haben müssen (der „Zahn der Zeit“, etc.). Etwas gelehrter ausgedrückt geht
es bei der Metonymie um ein Verhältnis der Kontiguität, bei der Metapher um ein
Verhältnis der Similarität. Beide Relationen sind, wie wir seit der Gestaltpsycholo-
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Fehlentwicklung abzutun. Sie erweist sich nicht nur als der Nährboden unserer
heutigen Wissenschaftskultur. In ihrem Kontext stellte sie eine ausgesprochen
wirkmächtige Institution dar, die der Zukunft eine konkrete, verhandelbare Ge-
stalt zu geben vermochte, fortwährend zum Überdenken und Überprüfen der
Gegenwartsbedingungen anhielt, erhebliche Freiräume für das besonnene Aus-
handeln wichtiger politischer Entscheidungen eröffnete und in der Lage war, ei-
nen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, um zielstrebiges Planen und Handeln
zu ermuntern. So waren es gerade die Mechanismen der altorientalischen Wahrsa-
gekünste, die dauerhaft eine sachbezogene, umsichtige Entscheidungsfindung be-
förderten und nicht unerheblich zu Erfolg und Beständigkeit der altorientalischen
Kulturen beitrugen.
In ebendieser Erkenntnis dürfte der Grund dafür zu suchen sein, dass selbst
Cicero, der den „Aberglauben (superstitw)“ der Wahrsagekünste restlos beseitigt se-
hen wollte, allen von ihm vorgebrachten Zweifeln zum Trotz empfahl, die Einge-
weideschau und andere Divinationsformen „um des Staates willen zu pflegen“.
Wolfgang Raible
„Metaphern als Denkmodelle"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 17. April 2015
Es gibt ein etwas rätselhaftes Fragment des Vorsokratikers Anaxagoras: öxpic; aöf]-
Xcov Tä (paivöpeva - die Sicht des nicht Wahrnehmbaren sind die Phänomene (also
das, was wir wahrnehmen können). Da von Anaxagoras auch überliefert ist, er sei
Arzt gewesen, wurde dies z. B. im Sinn von Symptomen einer Krankheit interpre-
tiert. Der eigentliche Sinn des Zitats wird noch deutlich werden.
Spricht man von Metaphern, so denkt der ,normale Sterbliche4 an Rhetorik,
Dichtung oder Kunstprosa. In der Rhetorik zählen Metaphern zu den Tropen.
Nach Quintilians Institutio soll es 12 davon geben. Einer der humanistischen Ge-
lehrten des 16. Jahrhunderts, Petrus Ramus (Pierre de la Ramee, 1515-1572) hat
ihre Zahl mit stringenter Logik bereits auf vier reduziert. Bei genauerem Zusehen
bleiben noch zwei davon übrig: Metapher und Metonymie - die nun allerdings
grundlegend sind nicht etwa nur für Dichtung, Rhetorik oder Prosa, sondern für
die menschliche Kognition überhaupt. Mit der Metonymie stellt man eine Bezie-
hung zwischen zwei benachbarten Bereichen her (etwa bei Teil-Ganzes-Verhält-
nissen: „Seine Mannschaft ist zwölf Köpfe stark“); mit der Metapher postuliert
man ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen zwei Bereichen, die nichts miteinander
zu tun haben müssen (der „Zahn der Zeit“, etc.). Etwas gelehrter ausgedrückt geht
es bei der Metonymie um ein Verhältnis der Kontiguität, bei der Metapher um ein
Verhältnis der Similarität. Beide Relationen sind, wie wir seit der Gestaltpsycholo-
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