Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Raible, Wolfgang: Metaphern als Denkmodelle
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0050
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
II. Wissenschaftliche Vorträge

gie wissen, die wohl elementarsten Relationen, die unsrer Erkenntnis und unsren
kognitiven Prozessen zugrundeliegen.
Die europäische Diskussion über Metaphern hatte im 20. Jahrhundert ein
großes Handikap: Das allenthalben angepriesene Zeichenmodell von C. K. Ogden
und LA. Richards ist dreipolig: Ein Zeichenkörper und das, was er bezeichnen
soll, sind über einen dritten Pol miteinander verbunden. Er nennt sich „Thought
or Reference“ und vermengt damit zwei Bereiche, die man klar voneinander tren-
nen sollte: den Bereich der Vorstellung und den Bereich der sprachlichen Bedeutung:
Meine identische Vorstellung oder Empfindung von ,Schmerz4 kann ich ja in ganz
verschiedenerWeise sprachlich formulieren: „Aua!“, „ich habe Kopfweh“, „I have
a terrible headache“, „me duele la cabeza“, „päätäni särkee paljon“ etc. Die Verbin-
dung zwischen Vorstellungen und ihrer sprachlichen Formulierung ist also sehr
locker (und keineswegs an eine Einzelsprache gebunden).
Das Problem war nun, dass die Literaten und Linguisten Metaphern vornehm-
lich als etwas Sprachliches gesehen haben, nicht als etwas, was mit den zugrundelie-
genden Vorstellungen zu tun hat. Die scholastischen Modisten des 13. Jahrhunderts
waren hier schon wesentlich weiter - sie unterschieden genau zwischen conceptus
und significatio. Metaphern und Metonymien spielen sich auf der Ebene der Vorstel-
lungen ab (und können natürlich eine sprachliche Form annehmen). Wie so oft hat
sich diese Erkenntnis in Europa erst durch eine Publikation aus den USA (wieder)
durchgesetzt: George Lakoff & Mark Johnson. Metaphors we live by' Die Autoren
zeigen dabei, dass bereits unser Alltagsleben völlig von Metaphern (die wir häufig
gar nicht mehr als solche wahrnehmen) beherrscht wird. Das Leben ist eine Reise,
Zeit ist Geld, Liebe ist Krieg (Ovids militat omnis amans) - etc.
Der heuristische Wert von Metaphern, auf den es bei ihrer Funktion als
Denkmodelle ankommt, kann nun anhand des Eingangs-Zitats von Anaxagoras
deutlich gemacht werden: Wie wir aus der aristotelischen Metaphysik wissen, dient
Leukipp und Demokrit, den Atomisten unter den Vorsokratikern, das griechische
Alphabet als Denkmodell: Für sie gab es ja nur Atome und leeren Raum dazwi-
schen; diese Atome unterschieden sich durch ihre Abfolge, ihre Position im Raum
und ihre Form - so wie die Buchstaben in der Schrift: AN ist etwas anderes als NA
(Reihenfolge), ein um 90° gedrehtes N wird zum Z (Position im Raum); und ein
A ist etwas anderes als ein N (Form). Das griechische Alphabet mit seinen Mög-
lichkeiten dient als Denkmodell, als Metapher, für die unsren Sinnen nicht direkt
zugängliche Struktur der Materie. Es erstaunt von daher nicht, dass Demokrit An-
axagoras eigens für das gelobt hat, was er mit dem obigen Zitat meint. - Was für
die Atomisten das griechische Alphabet war, ist für die Molekularbiologie weltweit
seit ihren Anfängen die Alphabetschrift: Seit 1953 sind die Nukleotide A, T, G und
C die „Buchstaben des genetischen Alphabets“, RNA-Polymerasen „lesen DNA-

1 Chicago: University of Chicago Press, 1980/2003.

50
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften