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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

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D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe und Mitglieder
DOI Kapitel:
I. Antrittsreden
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Leonhard, Jörn: Jörn Leonhard: Antrittsrede vom 24. Oktober 2015
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0323
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D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder

Jörn Leonhard
Antrittsrede vom 24. Oktober 2015

Sehr geehrter Herr Präsident,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

von Berufswegen her wissen Historiker
zumindest theoretisch um die Fallen
und Verführungen des Rückblicks. Man
könnte von der suggestiven Kraft der
Retrospektive sprechen, von der Nei-
gung, den einmal erreichten Punkt einer
Entwicklung als vermeintlich folgerich-
tige, gar logische Summe aller früheren
Entwicklungsschritte zu begreifen. Wer


sich und anderen im autobiographischen
Modus so etwas wie eine Rechenschaft abgibt, wie er dahin gelangt ist, wo er sich
gerade befindet, der steht in der Gefahr, seine eigene kleine Meistererzählung zu
schreiben, so als ob auch für das eigene kleine Leben eine Art von Hegelschem

Grundsatz gelte, dass es am Ende doch kam, wie es kommen musste.
So wenig das bei Revolutionen, Kriegen und anderen historischen Großereig-
nissen funktioniert, so wenig erst recht im Blick auf eine biographische Linie. Wer
sie aus dem Abstand ansieht, kommt nicht umhin, sich zu wundern: über Zufälle,

Umwege und glückliche Umstände, über die vergangene Offenheit von Konstel-
lationen, deren Konsequenzen im Moment der vergangenen Erfahrung alles ande-
re als absehbar, und schon gar nicht berechenbar und planbar waren. Was für die
„historia“ gilt, kann an dieser Stelle auch für die eigene Person reklamiert werden:
die von Reinhart Koselleck so oft beschworene Offenheit jeder historischen Situa-
tion, der vergangenen Zukunft, die zur Geschichte als strukturierte, mit Sinn und
Richtung versehene Erzählung eben erst aus dem Rückblick wird. Erst in dieser
verkürzenden Logik wird aus der Vielzahl der Möglichkeiten schließlich die eine
eingetretene Wirklichkeit. Historiker sind chronische Besseiwisser, weil sie wis-
sen, was herausgekommen ist. Aber wissen sie es darum besser?
Ohne diese „captatio benevolentiae“ würde es dem zu Ihnen Sprechenden
schwer fallen, etwas über seinen bisherigen Weg zu berichten - und sei es als in-
trinsisch gemeinte Warnung an sich selbst, dem sprachlich Konstruierten am Ende
nicht doch mehr Sinn zuzuschreiben, als es die Kombination von biographischen
Kontingenzen im strengen Sinne zulässt.
Ich bin im Mai 1967 in Birkenfeld an der Nahe geboren, politisch-territorial
wie konfessionsgeschichtlich eine nicht uninteressante Enklave. Familiär überwo-
gen und überwiegen bis heute Beamte in allerlei Funktionen, Verwaltungsspezia-

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