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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

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A. Das akademische Jahr 2015
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Gerok-Reiter, Annette: Vom Sinn und Unsinn, sich mit dem Frühen Minnesang zu beschäftigen
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https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0066
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II. Wissenschaftliche Vorträge

So unterschiedlich die skizzierten Deutungsoptionen in ihren Wertungen
auch ausfallen, so partizipieren sie doch sämtlich an einer der Struktur nach ähnli-
chen Interpretationsfigur kultureller Entwicklung. Diese Figur ist im Prinzip einer
organisch-naturalen Genesevorstellung verpflichtet: der Abfolge von Keim und
entwickelter Pflanze, von Knospe und Blüte, von Kindes- und Mannesalter, von
Frühling und Sommer. Doch diese Entwicklungsfigur firmiert weit über den na-
turalen Kontext hinaus, ja sie stellt über die metaphorische Übertragung und ihre
impliziten Wertungen eine der rhetorisch besonders suggestiven Grundformeln
für teleologisch angelegte Kultur- und Geschichtserzählungen.
Gegenüber diesen suggestiv wertenden Abfolge- und Entfaltungsszenarios
war es Anliegen des Vortrags, den frühesten Minnesangs des 12. Jahrhunderts
und mit ihm die organisch-naturalen Genesevorstellungen kultureller Anfände
neu zu perspektivieren. Exploriert wurde der Perspektivwechsel an drei sehr un-
terschiedliche Liedbeispielen, dem anonym überlieferten Lied Mich danket niht
so guotes (MF 3,17), das man nach Inhalt und Form zu den ältesten Zeugnissen
der mittelhochdeutschen Lyrik zählen darf, an Kürenbergers Strophe Wip unde
vederspil (MF 10,17) sowie an den bekannten Versen aus der Tegernseer Hand-
schrift clm 19411 Du bist mm, ich bin din (MF 3,1), die zwar erst 1180 überliefert
sind, aber von ihrem Duktus her auch in die früheste Phase des Minnesangs
verweisen.
Alle drei Lieder scheinen auf den ersten Blick die Kategorien des ,Einfachen4,
der ,emotionalen Direktheit4 und der ,Ursprünglichkeit4 zu bestätigen, wenn
auch mit je unterschiedlicher Semantik und Metaphorik. Doch genau besehen
bergen die so harmlos wirkenden Strophen entscheidende kulturelle Neuerun-
gen, die dem zeitgenössischen Kontext allererst, so scheint es, abgerungen werden
mussten. So etablieren die Lieder auf je eigene Weise ein personales, sich selbst
behauptendes Ich gegenüber der normativen Vorrangstellung des Kollektivs. Sie
korrelieren weltliche Minne mit einem kulturellen Anspruch, der sich gegenüber
der Gottesminne zu behaupten sucht. Sie positivieren ein weiblich-affektives
Sprechen gegenüber der Dominanz einer weitgehend misogynen klerikalen Tra-
dition. Sie erlauben nicht nur dem weiblichen, sondern auch dem männlichen
Sprecher-Ich eine Sprache der Emotionen unter positiven Vorzeichen einzuüben
und eröffnen dadurch die Chance, Affektivität im Wertetableau der kommenden
Zeiten umzubesetzen. Und schließlich wirken sie mit an der Anerkennung und
Durchsetzung der Volkssprache als Kultursprache gegenüber der Hegemonie des
Lateinischen.
Dass dies im zeitgenössischen Kontext ein außerordentlicher, ja ein befremd-
lich-verunsichernder Akt gewesen sein muss, lässt sich dabei nicht nur über die
literarhistorischen und sozialen Kontextualisierungen zeigen, sondern hinterlässt
auch Schraffuren in den Strophen selbst: im Registerwechsel der Sprechhaltung,
in subtilen semantischen Umbruchsstellen, in unvermittelten Bildwechseln, in

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