Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2017
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Zimmermann, Bernhard: Mosaiksteinchen der Literaturgeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0052
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
II. Wissenschaftliche Vorträge

Strategie, das Land den Spartanern preiszugeben und sich auf die Flotte zu verlas-
sen, konnte man durchaus als Feigheit auslegen. Dass es zum Krieg gekommen ist,
wird als persönliche Schuld des Dionysos/Perikles dargestellt, der aus Eitelkeit - er
will der Schönste und Attraktivste sein - und getrieben von sexuellem Verlangen
die Vergeltungsmaßnahme der Achäer/Spartaner herausfordert. Auch der richtige
Paris, der zunächst die Kriegsgefahr durch die Auslieferung von Dionysos und
Helena beseitigen will, erliegt seinen Emotionen und Trieben: dem Mitleid, das
er mit Helena hat, und seinem Wunsch, sie zur Frau zu gewinnen. Auch er ist also
in keiner Weise besser als sein göttlicher Doppelgänger. Die politische Botschaft,
die hinter der burlesken Handlung aufscheint, ist also durchaus pessimistisch:
Selbst wenn man einen Kriegstreiber, der aus egoistischen Gründen den Krieg
vom Zaune brach, ausliefern sollte - die Auslieferung des Dionysos könnte an die
von den Spartanern geforderte Vertreibung des Perikies wegen des Kylonischen
Frevels erinnern, über die der Historiker Thukydides (I 127) berichtet - wird sich
nichts ändern, da auch die anderen Demagogen sich allein von ihren persönlichen
Interessen und Emotionen leiten lassen.
Aus diesem kurzen Überblick über den Dionysalexandros lassen sich im Hin-
blick auf die Gattungsgeschichte und die die Gattung Komödie konstituierenden
Elemente noch weitere Erkenntnisse gewinnen. Während Aristophanes sich vor-
wiegend mit der tragischen Schwestergattung und der zeitgenössischen Chorlyrik
auseinandersetzte, bevorzugte Kratinos offensichtlich Modelle und Bezugspunkte
in der archaischen Zeit: Homer im Dionysalexandros und in der etwa gleichzeitig
entstandenen Nemesis, in der die groteske Geburt Helenas aus einem Ei im Mit-
telpunkt stand - Zeus hatte Leda in Gestalt eines Schwanes beigewohnt -, He-
siod in den Hesiodoi („Hesiod und Genossen“) und Archilochos in den Archilochoi
(„Archilochos und Genossen“). Kratinos scheint die Form der transparenten Ko-
mödie, derer sich 424 Aristophanes in seinen Rittern mit Bravour bediente, ent-
wickelt zu haben: Hinter der eigentlichen Bühnenhandlung - in diesem Fall der
Vorgeschichte des Trojanischen Kriegs - kommt eine zweite Ebene zum Vorschein,
die durch die erste ihre Deutung erhält, im Dionysalexandros die Frage nach dem
Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs und die Suche nach den Schuldigen und
nach deren Motiven. Dass der Gott Dionysos als dramatis persona wie in den Frö-
schen des Aristophanes auftritt, hat nicht nur inhaltliche Gründe, sondern verweist
auch auf eine besondere ,dionysische Poetik4 des Kratinos, auf deren unbändi-
ge, mitreißende Kraft Aristophanes in den Rittern des Jahres 424 anspielt (Verse
526-528) und die Kratinos in seiner Replik auf die aristophanischen Ritter, in der
der jüngere Dichter das Ideal einer nüchternen, intellektuellen, mit geringem Auf-
wand auskommenden Komödienkunst vertritt (Verse 537 ff), ein Jahr später in der
Flasche (Pytine) zum komischen Thema macht. In diese „dionysische“ Richtung
des Kratinos weist auch die Tatsache, dass er die Komödie der ganz und gar diony-
sischen Form des Satyrspiels geöffnet zu haben scheint.

52
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften