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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Gesamtsitzung am 22. Juni 2017 zu Ehren von Peter Graf Kielmansegg anlässlich seines 80. Geburtstages
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Münkler, Herfried: Was kann die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit historischen Themen lernen?: Graf Kielmanseggs Buch über den Ersten Weltkrieg
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0058
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II. Wissenschaftliche Vorträge

in Politik und Justiz ankämpften, immer noch an der Macht, und für derart subtile
Fragen, wie die nach den Handlungsspielräumen eines Politikers und den dilem-
matischen Paradoxien, in die er dabei geraten konnte, hatte man keinen Sinn. Im
Gegenteil: In Konstellationen, die durch den „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch)
geprägt waren und in denen ein grenzenloser Optimismus bezüglich dessen, was
man politisch erreichen könne, die allgemeine Debatte bestimmte, war die Be-
schäftigung mit den Dilemmata und Paradoxien der Politik nicht angesagt. Sie
störte die Aufbruchstimmung. Wenn die Grundstruktur einer sozio-politischen
Ordnung in Frage gestellt wird und neu eingerichtet werden soll, wenn es weiter-
hin um die systemische Rekrutierung politischer Eliten geht, kommt Problemen,
wie den von Kielmansegg aufgeworfenen, keine große Resonanz zu. Die Ökono-
mie der Aufmerksamkeit ist dann andeiweitig fokussiert.11
Zu dem für eine nachhaltige Aufmerksamkeitsfokussierung ungünstigen Ver-
öffentlichungszeitpunkt kam freilich noch ein struktureller Aspekt hinzu; er be-
stand darin, dass Kielmanseggs Fragestellung, vor allem aber seine Antwort viel
zu melancholisch waren, als dass sie für eine Intervention ins geschichtspolitische
Selbstverständnis der damals noch recht jungen Bundesrepublik geeignet gewesen
wären. Das untersuchte Problem ließ weder die kompakte Anklage der sozio-po-
litischen Eliten Deutschlands im Ersten Weltkrieg zu noch bot es Aussichten auf
eine grundsätzliche Lösung der behandelten Probleme, sondern zeigte ein Dilem-
ma auf, in das alle geraten können, die Politik betreiben. Und das Vertrackte an
diesem Dilemma war, dass ihm auch diejenigen nicht entgangen wären, die 1914,
1916 und 1917 eine prinzipiell andere als die von Bethmann Hollweg betriebene
Politik präferierten, also die politische Linke in Deutschland. Die Melancholie der
Kielmansegg’sehen Überlegungen kam also nicht an gegen die sanguinische Auf-
bruchsstimmung der Zeit von 1968 ff, und die Skepsis bezüglich der Handlungs-
spielräume von Politik war eben nur Wasser im Wein der verbreiteten Vorstellung,
man könne eine bessere Welt schaffen, wenn man nur wolle und die dafür erfor-
derlichen gesellschaftlichen Kräfte zusammenbringe. Ich vermute, dass ein solches
Unverständnis dem heutigen Jubilar durchaus recht war. So manches Nicht-Ver-
ständnis dürfte aus seiner Sicht das ganz und gar richtige Verständnis gewesen
sein. In gewisser Hinsicht war die Beschäftigung mit Reichskanzler Theobald von
Bethmann Hollweg für Graf Kielmansegg eine Vorübung auf dem Weg zu seinen
späteren Studien über Regierbarkeit.12

11 Zur Betrachtung von Aufmerksamkeit als einem knappen Gut, das entsprechend bewirt-
schaftet wird, vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München und
Wien 1998.
12 Vgl. Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmansegg, Ulrich Matz (Hgg.), Regierbarkeit. Studien zu
ihrer Problematisierung, Stuttgart 1980.

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