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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Gesamtsitzung am 22. Juni 2017 zu Ehren von Peter Graf Kielmansegg anlässlich seines 80. Geburtstages
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Münkler, Herfried: Was kann die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit historischen Themen lernen?: Graf Kielmanseggs Buch über den Ersten Weltkrieg
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0060
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II. Wissenschaftliche Vorträge

warum die Annahmen und Prognosen einer solcherart kupierten Politikwissen-
schaft immer dann fallieren, wenn Gegenspieler auftauchen, die von der ganzen
Fülle der Möglichkeiten kreativen Gegenhandelns Gebrauch machen. Sie sind im
szientistischen Modell nicht vorgesehen, und wenn man sich nicht damit retten
will, dass man ihr Auftreten zu einem Problem der Politik, aber nicht der Politik-
wissenschaft erklärt, muss man dann doch Anleihen bei der politischen Urteils-
kraft und bei historischen Parallelen und Analogien machen.
Weil man den Umgang mit historischen Analogien aber nicht reflektiert hat,
weil man sich mit deren Voraussetzungen und ihrer begrenzten Reichweite nicht
beschäftigt hat, werden diese Anleihen zu einem Rückzug in die Banalität freien
Assoziierens. Je enger die Grenzen einer Wissenschaft sind, desto banaler werden
die Äußerungen von Wissenschaftlern, sobald sie sich außerhalb dieser Grenzen
bewegen. Politik ist aber ein Terrain, bei dem die damit befassten Wissenschaftler
sich notorisch außerhalb der von ihnen bearbeiteten engen Felder bewegen müs-
sen. Peter Graf Kielmansegg kann sich dort bewegen. Das hat, behaupte ich, mit
dem Training politischer Urteilskraft zu tun, als das er das Fach - immer auch -
verstanden und betrieben hat.
Historische Analogie und politische Prognose: Ein Blick auf Edmund Burke
Ein Beispiel für die Folgen fehlender politischer Urteilskraft ist der Umgang mit
dem so genannten Arabischen Frühling in Wissenschaft und Publizistik vor weni-
gen Jahren. Man hatte mit dieser Bewegung in der arabischen Welt nicht gerechnet,
und es gab wohl auch keine starken Gründe, aus denen heraus man damit hätte
rechnen können. Das Anfangsereignis in Tunesien war kontingent, und die rasante
Ausbreitung von Protestbewegungen außerhalb Tunesiens war selbst für die Spe-
zialisten der digitalen Kommunikation überraschend. Also griff man zu Analogien
aus der jüngeren Geschichte, die naheliegend erschienen, und das waren die so
genannten Friedlichen Revolutionen im Spätherbst 1989, als die Satellitenstaaten
der Sowjetunion der Reihe nach zusammenbrachen. Diese Analogie besaß eine
gewisse Plausibilität. Sie bedeutete, dass Bürgerbewegungen, die sich aus eigener
Kraft der autoritären und korrupten Führer des Landes entledigt hatten (was in
der Anfangsphase des Arabischen Frühlings ja auch der Fall war),13 nun eine neue
politische Ordnung nach westlichem Vorbild errichten würden. Dabei wollte man
sie gerne beraten und unterstützen. Aber dann kam alles ganz anders, und was
anders kam, hätte sich durchaus voraussehen lassen: dann jedenfalls, wenn man
über ein größeres Arsenal möglicher Analogien verfügt und diese mit politischer

13 Zu dieser Phase vgl. Frank Nordhausen/Thomas Schmid (Hgg.), Die arabische Revolution. De-
mokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf Berlin 2011, sowie Tahar Benjelloun, Arabischer
Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde, Berlin 2011.

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