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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

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A. Das akademische Jahr 2018
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III. Veranstaltungen
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Böhme, Hartmut: Zufall in der Geschichte – Geschichte des Zufalls
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https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0118
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III. Veranstaltungen

und des Militärs treten. Nicht umsonst entsteht zur gleichen Zeit die Wahrschein-
lichkeitsrechnung, die eine unbegrenzte Welt voller Möglichkeiten voraussetzte. Das
Aleatorische bei Gerolamo Cardano, der sich besonders mit Risikospielen beschäf-
tigte, oder die Kontingenz bei Leibniz bedeuten das ,nicht-notwendig-Seiende‘, also
Zufällige, das dennoch wirklich sein kann. Philosophen und Naturwissenschaftler
wie Blaise Pascal, Christiaan Huygens, Pierre de Fermat erforschten die Ordnung,
ja die Mathematik des Zufalls. In der Philosophie wird eine säkulare, auf Begrün-
dungsverfahren und Folgenabschätzung beruhende Moral entwickelt. In der Summe
erkennen wir, dass mit der Zunahme von Kontingenz zugleich die Handlungsmäch-
tigkeit wächst, das rationale Kalkül und das Selbstmanagement des Subjekts. Erst vor
diesem Hintergrund kann es ein weltimmanentes Scheitern geben, aber auch im
starken Sinn ein Handeln geben, das auf Motivation, Zielführung und Reflexivität
beruht (vgl. Bubner 1998, Makropoulos 1997, 1998a, 1998b)
Doch die Funktion säkularer Ordnungen (Staat, Recht, Polizei ...) war vor al-
lem auf die Verhinderung von Zufall und Unordnung gerichtet, politisch gesehen,
auf die Herstellung von Sicherheitsgarantien, ohne die es keine Loyalität des Volkes
gibt. Alle abendländischen Systementwürfe und Staatstheorien sind durch Sicher-
heits- und Ordnungsmodelle geprägt, in denen der Zufall und das Scheitern zum
Gegner erklärt werden. Der Risikothrill ist ein Merkmal einer Minderheit moralisch
zweifelhafter Abenteurer und Hasardeure, ohne die der Mehrheitsgesellschaft aller-
dings jede Dynamik fehlen würde. Risikoaffinität und Scheiternsfähigkeit ebenso
wie sicherheitsspendende Rahmenordnungen sind gleichermaßen wichtige Funkti-
onen der sozialen, wissenschaftlichen und vor allem der ökonomischen Dynamik.
Spielräume des Zufalls in der Literatur
Parallel dazu zeigen die Künste eine verwandte Entwicklung. Ich will hier nur,
ungebührlich kurz, die Literatur herausheben, die, wenn man so will, zu einem
gewaltigen Zufalls- und Scheiternsgenerator, aber auch zu einer Kontingenz-Be-
wältigungsmaschinerie wird. Es sind zwei Ebenen, zu denen ich zwei Beobachtun-
gen anstellen will.
Generell geht es um die poetische Möglichkeit, dass in der Tragödie und Ko-
mödie, im spätantiken Roman und später in der Alexander- und Artus-Epik, doch
erst recht im neuzeitlichen und modernen Roman, der Zufall freigegeben wird
als Agent der poetischen Wahrscheinlichkeit oder auch der Planlosigkeit, die der
Welt als ganzer zugrunde liegt. Diese Grundlosigkeit macht die absolute Weltkon-
tingenz aus. Es gibt keinen zureichenden Grund dafür, dass die Welt ist und nicht
vielmehr nicht ist. Und das gilt für uns selbst und jede unserer Handlungen und
Widerfahrnisse. Biographien werden schon bei Rabelais, Cervantes, Sterne und
Goethe aus Zufällen gewebt. Das Poetische ist das Mögliche, aber nicht Notwen-
dige, das Wahrscheinliche, aber nicht Wirkliche.

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